Mehr Symbolkraft hätte auch Hollywood nicht in die Geschichte packen können: Ausgerechnet jenes Ereignis, dass wie kein zweites das amerikanische Bild vom terroristischen Araber prägte, sollte die Erinnerung an eine Zeit zurückbringen, in der arabisches Leben mitten in New York einmal selbstverständlich war. Nur wenige Dutzend Meter von Ground Zero entfernt fanden Arbeiter bei Aufräumarbeiten im Oktober 2002 den Eckstein einer alten libanesischen Kirche. Die Wiederentdeckung der Überbleibsel der 100 Jahre alten libanesischen St. Joseph's Maronite Church führte zugleich zur Wiederentdeckung des arabischen Erbes New Yorks. Denn dort, wo später das World Trade Center gebaut wurde und wieder einstürzte, gehörten zwischen 1880 und 1940 Frauen in Kopftuch genauso zum Straßenbild wie die arabischen Schriftzüge an den kleinen Krämerläden.
Wer vor 100 Jahren durch Lower Manhattan spazierte, der traf auf eine Welt, die bei Donald Trump und anderen Flüchtlingsgegner von heute wohl Panikattacken auslösen würde: Im Zentrum New Yorks verkauften Straßenhändler religiösen Klimbim und syrischen Lakritzsaft. Wo heute Bankgebäude in die Höhe schießen, gab es in Basaren von selbstgemachten Teppichen über Schwerter bis zu orientalischen Lampen so ziemlich alles, nur keine verbindliche Preisauskunft. In Cafés rauchten junge arabische Migranten Wasserpfeife, die Alten dösten beim Backgammonspiel und Medien gaben Downtown Manhattan den Beinamen "Little Syria".
"Elende maronitische Bettler befallen dieses Land"
Rund 3000 arabische Migranten wohnten in jener Zeit zeitgleich in dem Viertel, das sich vom Battery Park an der südlichen Spitze der New Yorker Halbinsel bin zum jenem Ort erstreckte, an dem später das World Trade Center gebaut werden sollte. Bis zu 60.000 Menschen, die aus dem zerfallenden Osmanischen Reich über den Atlantik geflohen waren, könnten zumindest zeitweise in dem Viertel gelebt haben. Das Zentrum der damaligen arabischen Parellelkultur war die Washington Street mit ihren zwei großen orientalischen Kirchen: der St. George’s Syrian Catholic Church und St. Joseph’s Maronite Church. Denn anders als heute handelte es sich bei der überwiegenden Mehrzahl nahöstlicher Migranten damals um Christen. Doch die Klischees, denen sich die Flüchtlinge ausgesetzt sahen, waren dieselben wie heute.
Ein New York Times-Artikel vom 25. Mai 1890 trug die Überschrift: "Elende maronitische Bettler befallen dieses Land". Gemeint waren orthodoxe Einwanderer aus dem Libanon, die vermutlich die größte arabische Migrantengruppe jener Zeit stellten. "Hier versammeln sich alte Weiber…, jämmerliche alte Männer und Großfamilien aus schmutzigen Kindern, neben fetten Müttern und Arbeitern", schrieb der Reporter Chromwell Childe im Jahr 1899 über seine neuen arabischen Nachbarn und stellte ernüchtert fest: "In ganz New York findet sich nichts abgrundtief schmutzigeres als diese alten Wohnblocks."
"Keine andere Kirche ist auch nur halb so prachtvoll und protzig"
Childes Reportage macht aber auch die Ambivalenz deutlich, mit der schon damals das Thema arabischer Migranten journalistisch behandelt wurde: "Keine andere Kirche ist auch nur halb so prachtvoll und protzig", schwärmte er nach einem Besuch in der St. George’s Church. Über den Besuch in einem der arabischen Restaurants notierte er: Das Essen "hatte einen Eigenduft, an den weder die Franzosen noch die Deutschen herankommen." Auch die Menschen des kleinen Stadtteils hatten es dem New York Times-Reporter angetan: Wohlerzogenen Gentleman der höchsten Gattung sei er in der Washington Street begegnet. Childe schwärmt von "syrischen Schönheiten". "Diese Fatimas sind zweifellos falsche Göttinnen." Bedauernswert sei lediglich, dass sich diese "verblüffend schönen Mädchen" so rar machten, dass man sie nur durch Spalte und Rollläden erspähen könne.
Nicht nur in Childes Text gleicht die Flüchtlingsberichterstattung auch damals schon einem Ringen um die mediale Deutungshoheit: In einem Text gilt "Little Syria" als Ort jugendlicher Straßenschläger, in einem anderen werden die Syrer als die "gesetzestreusten Bevölkerungsteile" der Stadt gepriesen. Ein Autor beschwert sich über die Weigerung der arabischen Neuankömmlinge, Englisch zu sprechen. Ein anderer betont den Mangel an kommunalen Sprachunterricht.
"Little Syria" als ruhiger Gegenentwurf zum hektischen New York
Die Widersprüchlichkeit vieler Medienberichte ist aber nicht nur der Perspektive der Reporter geschuldet: Wie heute galt auch schon damals: DIE Syrer gibt es nicht. Das liegt nicht nur daran, dass die Bewohner "Little Syrias" in Wahrheit auch aus Jordanien, Palästina und dem Libanon stammten. Im arabischen Viertel um die Washington Street herrschte nicht nur kulturelle, sondern auch sozialen Vielfalt: Während viele alteingesessene Migranten oft zu erfolgreichen Geschäftsmännern aufstiegen, verdingten sich Neuankömmlinge als Bettler oder in den ausbeuterischen Sweatshops der Stadt.
In einem anderen Urteil scheinen sich die meisten Reporter von damals hingegen einig: Kleinsyrien galt als Gegenentwurf zum immer schneller werdenden Takt der amerikanischen Millionen-Stadt; als Ruhepol, deren Bewohner nicht "dem Geist von Eile und Hektik" folgten. Bei Weinblättern mit Kalbsfleisch und syrischem Rotwein trafen sich in den Restaurants am Abend auch Gäste aus anderen Stadtteilen bei ihren arabisch-christlichen Nachbarn. In den Literatencafés versammelte sich eine kleine Intellektuellen-Szene, die nicht nur drei arabisch-sprachige Zeitungen, sondern mit Amin Al-Rihanis "The Book of Khalid" auch den ersten großen arabisch-amerikanischen Roman hervorbrachte.
"Little Syria" weicht der Schnelllebigkeit New Yorks, doch sein Erbe lebt fort
Doch bald schon wurde die kleine arabische Parallelwelt von der amerikanischen Schnelllebigkeit fortgerissen. Infolge erstarkender Rassenideologie und Angst vor dem Sozialismus verschärften die Vereinigten Staaten mehrmals ihre Einwanderungsgesetze. Die Zahl neu ankommender Migranten geht in den Zwanzigerjahren um 85 Prozent zurück. Gleichzeitige erlebt New York einen Bauboom: Der Großteil "Little Syrias" musste 1946 der Einfahrt zu einem Tunnel unter dem East-River weichen. 20 Jahre später fielen dem Bau des World Trade Centers auch die letzten Reste von Kleinsyrien, unter ihnen die St. Joseph's Maronite Church, zum Opfer.
Es dauerte fast 40 Jahre, bis die New Yorker sich auf dieses Erbe besannen. Nachdem Bauarbeiter den Eckstein der St. Joseph's Maronite Church fiaden, schlossen sich Nachkommen früherer und heutige Bewohner der Washington Street zu einer Initiative zusammen, um das arabische Erbe ihre Stadt zu bewahren. Mit Erfolg: Rund fünf Gehminuten südlich von Ground Zero steht die St. George’s Syrian Catholic Church, eines von nur drei verbliebenen Gebäude Little Syrias, mittlerweile unter Denkmalschutz stehend.
Und auch der Eckstein der St. Joseph's Maronite Church hat einen würdigen Platz erhalten. Auf der anderen des East Rivers steht er in einer auch heute noch genutzten libanesischen Kirche. Wie in "Litte Syria" prangen dort arabische Schriftzeichen von kleinen Geschäften, treffen sich junge Männer in Wasserpfeifen-Cafés. Denn auch wenn "Little Syria" Geschichte ist, New Yorks arabisches Kapitel geht weiter. Rund 250.000 Menschen mit arabischen Wurzeln und damit mehr als je zuvor leben heute in der Stadt. Nur eine abgeschottete Parallelkultur findet man heute nicht mehr. Das Zentrum des heutigen arabischen New Yorks: Der Multikulti-Stadtteil Brooklyn.