Bernhard Gutsche ist gefährlich. Denn liebend gern entführt er seine Gäste. Fesselt sie und schlägt sie in Bann. Mit Inbrunst und mit Leidenschaft. Seine Stricke sind Worte und Geschichten, seine Nägel Altäre und Skulpturen. Mit ihrer Hilfe entwirft er so bunte und plastische Panoramen, dass man mitten drin zu stecken meint – in Fegefeuerpein und Himmelfahrtsglorie, in Mysterienspielzauber und Enthusiasmusektstase. Kurzum: im zutiefst frommen Leben am Vorabend der Reformation, "von dessen extremer Innerlichkeit wir heute keinerlei Ahnung mehr haben."
Gleich zu Beginn räumt er auf mit dem zähen Vorurteil, das Spätmittelalter sei kalt und düster gewesen. Gutsche sieht es vielmehr als wunderschönen tropischen Garten, der lediglich komplett überwuchert gewesen sei. Dessen Wege nicht mehr zu erkennen wären und an dessen Beete man nicht mehr herankomme zum Ernten. "Und was machen nun die Reformatoren? Sie schneiden knallhart zurück. Mit einem unheimlich scharfen Werkzeug. Denn sie haben einen Plan im Kopf, wie die Wegestruktur aussehen muss – um wieder ernten zu können."
"Wir sind der Vorspann, den man braucht, um die Reformation zu verstehen"
Gutsche ist Pfarrer der Nikolaikirche zu Jüterbog. Einer Kleinstadt im südlichen Brandenburg, die vor exakt 500 Jahren einen höchst bedeutsamen Abdruck in Welt- und Kirchengeschichte hinterließ – als direkter und unmittelbarer Auslöser für die Thesen des Martin Luther. Anno 1517 nämlich macht der Dominikanermönch Johann Tetzel Station in Jüterbog. Ein begnadeter Redner, dessen aufsehenerregende Predigten immer wieder große Mengen von Gläubigen anlocken. Und ein gewiefter Verkäufer, der die Befreiung von Sünden verspricht – gegen bare Münze. Sein Leitspruch "Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt". Jede Sünde hatte bei ihm angeblich einen festen Preis: So soll die Vergebung für einen Mord acht Dukaten gekostet haben, während ein Ehebruch schon für sechs Dukaten zu haben war. Belegt ist, dass Tetzel seine "Tarife" sozial gestaffelt hatte; arme Leute mussten weniger zahlen als Reiche.
In Jüterbog nun soll Tetzel einen Ablass unter die Leute bringen, der möglichst schnell möglichst viel Geld zum Bau des Petersdoms in Rom in die Kassen der Kirche spült. Der fette Köder ist ein allerhöchster, weil päpstlicher Ablassbrief, mit dem man die Verbüßung von Reinigungsstrafen im Fegefeuer nicht nur verkürzen, sondern sogar ganz umgehen kann, also direkt und ohne schmerzhafte Umwege ins Paradies gelangt. Unter anderem.
Dieser attraktive "heilige Handel" zieht Gläubige in Scharen nach Jüterbog. Selbst aus dem nahen Wittenberg kommen sie gepilgert, um in den Genuss dieses universalen Ablasses zu gelangen. Das nun bringt Martin Luther, der in Wittenberg predigt und lehrt, gehörig auf die Palme. Seit längerem schon wettert er wider den Missbrauch von Ablässen, aber dass nun die Schafe aus seiner eigenen Herde in Jüterbog fremdweiden, wurmt ihn gewaltig. Und mehr noch: Dass sie ernsthaft glauben, aller Sünden ledig zu sein für ein paar Gulden und durch einen Fetzen Papier, setzt dem Ganzen die Krone auf. Empört schreibt er seine 95 Thesen und schlägt sie an der Schlosskirche zu Wittenberg an. So geschehen am 31. Oktober 1517. Und so die Legende.
Was also läge näher, als Jüterbog zum 500. Jubiläum der Reformation und im Lutherjahr 2017 zu positionieren als "Stadt des Anstoßes der Reformation"? Ein Thema, bei dem Bernhard Gutsche sofort wieder Feuer und Flamme ist: "Wir wollen nicht zeigen, was die Reformation ist – das können die anderen besser –, sondern wir wollen die Zeit zeigen, in der die Reformation geboren wurde. Wir sind der Vorspann, den man braucht, um die Reformation zu verstehen. Ein Ort in der Nähe Wittenbergs, wo man vor allem die Geisteswelt zeigen kann, in der die da früher gelebt haben."
Welche Rolle etwa klösterliches Leben zu jener Zeit spielte und wie es funktionierte, lässt sich hervorragend in Kloster Zinna vor den Toren Jüterbogs nachvollziehen. Vom diesem einst enorm reichen geistigen und wirtschaftlichen Zentrum im Fläming zeugt etwa die Klosterkirche, eine im norddeutschen Raum einzigartige Granitsteinbasilika. Das Konversenhaus, in dem die Laienbrüder lebten. Das Gäste- und Siechenhaus, in dem heutzutage der legendäre Kräuterlikör "Zinnaer Klosterbruder" fabriziert wird. Und das Klostermuseum, welches in der einstigen Residenz der Äbte von Zinna über Arbeit und Gebet, Tagesablauf, Ämterverteilung und vieles andere aus dem harten und entbehrungsreichen Dasein der Mönche anschaulich informiert.
In Jüterbogs Altstadt ist neben der Nikolaikirche mit dem riesigen hölzernen "Tetzelkasten" für die Ablass-Dukaten sowie dem eindrucksvollen Fegefeuer-Altar von Lucas Cranach das Mönchenkloster die wichtigste Adresse. Seine Mauern beherbergen das so genannte Kulturquartier mit Stadtbibliothek und Besucherinformation, die man schöner kaum unterbringen kann – neben himmelwärts strebenden Kirchenpfeilern und unter wunderbar restaurierten Kreuzrippengewölben mit originalem Heiliggeistloch.
Im Museum nebenan gibt es Originale von Tetzels Ablasspredigten zu sehen, mit denen dieser wortgewaltig und effektvoll die Angst vor dem Fegefeuer schürte. Und auch die große Ausstellung "Tetzel, Ablass, Fegefeuer" als Höhepunkt des Lutherjahres wird diverse Raritäten und Kostbarkeiten zeigen wie Tetzels Antwort auf Luthers Thesen und Tetzels 106 Gegenthesen im Originaldruck.
Der ganze Disput sei übrigens zu Luthers Lebzeiten noch ganz gesittet verlaufen, meint Kulturquartier-Leiter Jens Katterwe: "Luther hat generell auf den Missbrauch des Ablasses reagiert. Und Tetzel war quasi die Figur, an der er sich gerieben hat. Tetzel hat sich dummerweise darauf eingelassen – da konnte er nur verlieren. Seine Rolle als Sündenbock aber ist erst Jahrzehnte später so stark überzeichnet worden."
Doch die Geschichte geht noch weiter: Ostern 1519 wird die Jüterboger Stadtkirche zur Bühne für den ersten großen Auftritt eines Predigers, der damals noch radikaler Luther-Anhänger ist: Thomas Müntzer. Ein reichliches Jahr ist es gerade her, dass die Verbreitung von Luthers Thesen begonnen hat. Nun kommt es in Jüterbog zu einem intensiven Streit über den Ablass und das Geld, das in den Kasten springt, der als Jüterboger "Kanzelkrieg" in die Geschichte eingeht.
Vielen Bürgern der Stadt gefallen die feurigen Reden des jungen Predigers. Die Heiligen und der Ablass nützen nichts, wettert Müntzer von der Kanzel. Wenn die Münze im Kasten klinge, nähmen nur Gewinn und Habgier zu. Der Papst sei gar nicht der Stellvertreter Christi und die Bischöfe nur Tyrannen und Verführer des Volkes. Damit stellt Müntzer die Autorität des Papstes und des hohen Klerus in Frage. Soweit war selbst Luther in seinen Thesen nicht gegangen.
Jüterbogs Franziskaner erfinden die "Lutheraner"
Die Franziskaner im Jüterboger Mönchenkloster spitzen besorgt ihre Ohren. Auch sie sind als Bettelmönche strikt gegen ein reiches Leben von Geistlichen und ihrem eigenen Klerus deshalb durchaus suspekt. Doch was sie hier hören, geht ihnen eindeutig zu weit. Wird da nicht ein Keil in die katholische Kirche getrieben? Und muss man nicht täglich Schlimmeres befürchten, wenn dieser Spaltung kein Einhalt geboten wird? Beim Bischof denunzieren sie den Vertreter der neuen Lehre als "Lutheraner", womit dieser Begriff erstmals in der deutschen Sprache auftaucht. Damals ein Schimpfwort, bezogen auf Müntzer aus heutiger Sicht ein Treppenwitz der Weltgeschichte: Ausgerechnet den Bauernkriegsprediger und späteren Erzfeind Luthers als Lutheraner zu verunglimpfen, entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie.
Etwas ganz Besonderes für das Jubiläum hat sich übrigens auch Pfarrer Gutsche ausgedacht. Er, der in seiner Kirche jedes Jahr Christi Himmelfahrt wie einst im Mittelalter zelebriert, will an die Tradition der Mysterienspiele anknüpfen, die es seinerzeit auch in Jüterbog regelmäßig gab und Ausdruck tiefster Volksfrömmigkeit waren. "Damals haben die ehrbaren Bürger der Stadt simultan auf mehreren Bühnen und Stationen Theater gespielt – die Fleischer zum Beispiel, die den Fall der Engel inszenierten." Ohne dramaturgischen Bogen, aber mit viel Engagement und Leidenschaft dauerte so ein Laienspiel damals bis zu drei Tagen. Für die Neuauflage 2017 plant Bernhard Gutsche zwei bis drei Stunden. Aber auch dafür wird jetzt schon mit Volldampf geprobt.