Mohammed schiebt seinen Pullover nach oben und zeigt auf eine Wunde, die fast verheilt ist: Etwa 20 Zentimeter zieht sich die Narbe längs über den Bauch, auf dem Rücken ist die Stelle zu sehen, an der die Gewehrkugel ausgetreten ist. Der zierliche Mann ist etwa 24 Jahre alt und trägt einen dichten schwarzen Bart. Ob er wirklich Mohammed heißt oder einen anderen Namen trägt – das interessiert im Ziv Medical Center in Safed keinen. Es wird auch nicht gefragt, ob er einer Rebellen-Gruppe angehört, Assad-Sympathisant ist oder Zivilist. Aus Angst vor dem Assad-Regime gibt niemand seine wahre Identität preis.
Das Ziv-Krankenhaus liegt in Galiläa oberhalb des Sees Genezareth nahe der Golan-Höhen, hier ist es nicht weit zur syrischen Grenze. Seit vier Jahren gibt es den medizinischen Grenzverkehr nach Safed. Meist nachts werden die Patienten eingeliefert, zuvor haben israelische Soldaten sie auf der syrischen Seite des Grenzzauns gefunden. Einige sind in Decken eingewickelt am Zaun abgelegt worden, die Wunden sind oft alt und bereits entzündet. David Fuchs ist Pfleger in der Notaufnahme und sagt, häufig begännen die Patienten zu schreien, wenn sie ihr Bewusstsein wieder erlangten: Zum ersten Mal seit langem sehen sie das elektrische Licht der OP-Lampen, sie hören die unbekannte hebräische Sprache, sie wissen nicht, wo sie sind. "Jetzt im Winter sind sie steif gefroren, sie haben Stunden im Feld gelegen. Oft sind Tage vergangen, bis sie bei uns in der Notaufnahme landen." Fuchs sagt, Schmerzmittel seien mittlerweile ein Fremdwort in Syrien. Und wenn jemand mit einem Bauchschuss nach zwei Tagen gebracht würde, sei es schon fast zu spät.
Auch Mohammed war mehr tot als lebendig, als er am Grenzzaun abgelegt wurde. Der Blutverlust war enorm, er war bewusstlos, die Wunde entzündet. Mohammed ist nicht der einzige aus seinem Dorf, der in Israel in Behandlung ist: "Mein Nachbar ist von einer Fassbombe getroffen worden, er liegt im Zimmer nebenan. Die Fassbomben haben auch Brüder von mir getroffen." Er sagt, die meisten der Opfer seien Zivilisten. Dennoch sei ein Zurück keine Option: "Was das Regime will, ist, uns wieder unter seine Macht zu zwingen. Aber das lehnen wir ab."
Rund 3.000 Syrer sind in den letzten vier Jahren in Israel behandelt worden, 800 davon allein im Ziv Medical Center. Auch das Western Galilee Hospital in Naharija an der Mittelmeerküste nimmt syrische Patienten auf. Dort wurden gravierende Verletzungen registriert: abgetrennte Gliedmaßen, schwerste Kopfverletzungen, Erblindungen durch Granatsplitter. Dr. Ohad Ronen ist Kopf- und Kieferchirurg. Er erzählt von einem Patienten, der eingeliefert wurde ohne Unterkiefer, er konnte weder essen noch sprechen, das Atmen fiel ihm schwer. Der Patient konnte mehrmals den geheimen Weg über die Grenze passieren. "Wir haben Teile seines Wadenbeins entnommen und damit Teile des Halses und Gesichts aufgebaut. Wir mussten Blutgefäße am Hals schaffen, aus Beinknochen formten wir den Unterkiefer, mit Gesichtsgewebe haben wir versucht, Lippen und Zunge zu rekonstruieren." Dr. Ronen sagt, solche Patienten müssten eigentlich dauerhaft betreut werden. Eine Wiederkehr aber ist ungewiss.
Viele Verletzungen und Krankheiten machen einen permanenten Arzt-Kontakt unabdingbar, sagt Dr. Alejandro Roisentul vom Ziv Medical Center in Safed. Gerade erst hat er ein vierjähriges zuckerkrankes Kind zurückgeschickt nach Syrien. Im Gepäck: Insulin für ein halbes Jahr. Und danach? Dr. Roisentul sagt, ohne ärztliche Begleitung sei das Mädchen dem Tod ausgesetzt. In Syrien gäbe es so gut wie kein Insulin mehr. Schmerzmittel, Antibiotika, Blindenstöcke, Rollstühle, Prothesen – all das ist nur noch für die wenigsten Menschen erhältlich. Dr. Roisentul hat noch nie so verheerende Wunden gesehen wie bei den Patienten aus Syrien: "Da wird gezielt auf Gesichter oder den Nacken geschossen, mit Kugeln aus großen Gewehren wie einer M16 oder einer Kalaschnikow. Und es gibt auch Verletzungen durch Schrapnell-Schüsse, wo die Opfer von mehreren Kugeln getroffen werden. Oft stecken die Kugeln noch im Gesicht oder in der Nähe des Rückenmarks. So was hab' ich noch nie gesehen."
Im Krankenhaus in Naharija sind junge Mädchen behandelt worden, die offenbar nach gezielten Angriffen auf die Wirbelsäule gelähmt waren. Auch von Schüssen auf den Bauch schwangerer Frauen wird erzählt. Und immer wieder gab es Fassbomben-Opfer. Krankenpfleger David Fuchs im Ziv Medical Center sagt, über einen langen Zeitraum hinweg seien vor allem Kinder und Jugendliche eingeliefert worden: "Viele von ihnen sind aus dem Haus gerannt, wenn sie Hubschrauber gehört haben. Denn in syrischen Häusern gibt es keine Bunker. Und diese Fassbomben haben die Menschen förmlich zerrissen."
Wunde verheilt: zurück nach Syrien
In Naharija und Safed sind Geschwister behandelt worden, denen Gliedmaßen amputiert werden mussten oder die erblindet sind. Kindern und Erwachsenen wurden Prothesen angepasst, sie bekamen Blindenstöcke und Rollstühle. All das sind Spenden, auch aus arabischen Dörfern in Israel. Für die Behandlung kommt der israelische Steuerzahler auf. Was aber, fragen sich die Ärzte, verrichten Blindenstöcke in einem Land, in dem es nur noch wenige intakte Wege und Häuser gibt, an denen man sich entlang tasten kann? Was geschieht mit Kindern, die bald zu groß sein werden für die Prothesen aus Israel? Ersatzteile in Syrien wird es auf absehbare Zeit nicht geben.
Wenn die Wunden verheilt sind, führt der Weg zurück auf die andere Seite des Grenzzauns. Das israelische Militär bringt die Menschen dorthin; wie sie von dort nach Hause kommen, ist nicht bekannt. Oft vernichten die syrischen Patienten alles, was auf ihren Aufenthalt in Israel hinweist: Jedes hebräische Schriftstück, jeder Kleidungsaufnäher könnte auf Kontakte zum Erzfeind hinweisen. Auch Mohammed fürchtet sich vor der Verfolgung durch Assad-Soldaten, sollte bekannt werden, dass er in Israel war. "Vor dem Krieg waren wir überzeugt, dass Israel unser Feind ist. So wurde uns das von klein auf beigebracht. Jetzt weiß ich aber, dass uns hier geholfen wird. Vater und Sohn Assad haben uns immer erklärt, dass Israel der Erzfeind ist. Aber genau das Gegenteil ist der Fall."
Im Ziv Medical Center ist man darauf eingestellt, noch weitere Jahre syrische Kriegsopfer aufzunehmen. Sie liegen Zimmer an Zimmer neben israelischen Patienten, viele Ärzte und Pfleger sind arabische Israelis und können sich mit den Syrern verständigen.
Der Chirurg Dr. Alejandro Roisentul sagt, es sei traurig, dass kein Ende des Krankentransfers abzusehen ist: "Wir haben genug Probleme damit, unsere eigene Bevölkerung zu versorgen. Und die syrischen Patienten kommen aus einem Land, mit dem wir noch nicht einmal einen Friedensvertrag haben. Aber wir sind keine Politiker, sondern Ärzte." Was sie sähen, seien schwer verletzte Menschen, die leiden. Also dürfe es keine Rolle spielen, ob sie aus Syrien oder Israel kämen. "Sie bekommen die gleichen Medikamente, die gleiche Behandlung, das gleiche Essen. Aber wenn sie gehen, dann gehen sie ohne Perspektive", sagt der Krankenpfleger David Fuchs. Er appelliert an die internationale Staatengemeinschaft: "Anstelle Kaffee zu trinken oder Gin und Whiskey, sollte sich endlich jemand von den Vereinten Nationen in Bewegung setzen. Warum machen die nicht einfach an der Grenze ein Lazarett auf? Die Vereinten Nationen müssen endlich Verantwortung übernehmen."
Mohammed, der syrische Patient mit dem verheilten Bauchdurchschuss, hat jede Hoffnung verloren. Nach sechs Jahren Bürgerkrieg seien sie zermürbt: "Jede Minute warten wir darauf, dass wir getroffen werden. Wir warten auf den Tod. Wir haben keine Arbeit mehr, keinen Strom, wir sind regelrecht belagert – ohne Essen, ohne medizinische Versorgung." Dennoch wird er gehen müssen, sobald das Wetter besser ist. Dann führt der medizinische Grenzverkehr ihn mithilfe des israelischen Militärs wieder zurück auf die andere Seite des syrisch-israelischen Grenzzauns – zurück in den Bürgerkrieg.