Satte Orgelklänge erfüllen die Siegener Martinikirche. Kantor Ulrich Stötzel schaut seinem Schüler Yousuf Ejazi beim Spielen über die Schulter. Hier und da unterbricht er ihn, erklärt etwas, spielt selbst eine kurze Passage vor. Dann bringt wieder Ejazi das große Instrument im Altarraum zum Klingen, an dem der schmale junge Mann fast verloren wirkt.
Es ist schwer zu glauben, dass er bis vor wenigen Monaten noch nie eine Orgel mit eigenen Augen gesehen hat. Vor einem halben Jahr floh Ejazi aus Afghanistan ins Siegerland. Seit einem Monat lernt er dort Orgel spielen. "Das Leben ist wirklich unvorhersehbar", sagt der 19-Jährige.
Musik als Dialog
Angefangen hat alles mit einem kleinen Keyboard und einer großen Leidenschaft für einen deutschen Komponisten: Johann Sebastian Bach. Klassische Musik begleitet Yousuf Ejazi seit seiner Kindheit in Kabul. "Das erste Musikstück, das ich als kleiner Junge bewusst gehört habe, war 'Für Elise' von Beethoven", erinnert er sich. Später hörte er dann Mozart, Liszt, viel Chopin - und schließlich Bach.
Es war keine Liebe auf den ersten Ton: Anfangs konnte Ejazi mit dem großen Komponisten des Barock nicht viel anfangen. Bach sei eben viel komplexer als die romantischen Komponisten, sagt er. Doch irgendwann hörte er dann die "Partita Nr. 1" und bemerkte, dass die Musik eine Art Dialog darstellt: "Eine Stimme beginnt in einer Tonart und eine andere Stimme antwortet in einer anderen." Seitdem ließ Bach den jungen Mann nicht mehr los. Natürlich hört er auch aktuelle Rock- und Popmusik, dabei wechseln seine Lieblingsmusiker. "Aber Bach bleibt."
Kein Klavierspielen auf der Flucht
Ejazi überredete seinen Vater, ihm ein kleines Keyboard zu kaufen, um selbst Klavier spielen zu lernen. Mit Hilfe von Youtube-Videos und Büchern brachte er sich mühevoll Tonleitern und Akkordfolgen bei. "Am Anfang habe ich Kopfschmerzen gekriegt", erinnert er sich lachend. Die Lust weiterzulernen verlor er nie.
Derweil verschlechterte sich die Sicherheitslage in Kabul, wie Ejazi berichtet. Die US-amerikanische Schule, die er besuchte, sei wegen Drohungen geschlossen worden. Seine Eltern sorgten sich um die Zukunft ihrer drei Söhne und entschlossen sich schließlich zur Flucht. Im Juli erreichte die Familie Deutschland, wo sie in einer Gemeinschaftsunterkunft in Wilnsdorf-Flammersbach unterkam.
Ans Klavierspielen war in dieser Zeit für Yousuf Ejazi erst einmal nicht zu denken. Bis er eines Tages bei einem Ausflug nach Siegen an der evangelischen Martinikirche vorbeilief und Orgelklänge hörte. "Ich wollte rein, aber die Tür war abgeschlossen." Ejazi notierte sich die Öffnungszeiten, doch als er wiederkam, war zwar die Kirche offen, aber die Orgel verwaist. Beim dritten Anlauf traf er endlich Ulrich Stötzel an.
Der Kantor erinnert sich noch gut, wie Ejazi in die Kirche kam, als er gerade an der Orgel probte, und höflich fragte, ob er näher treten dürfe. "Ich fragte ihn, ob er etwas auf der Orgel spielen möchte", erzählt der Kantor der evangelischen Martini-Kirchengemeinde. Er war beeindruckt, als der junge Afghane eine "Invention" von Bach spielte. "Es ist erstaunlich, wie viel er sich selbst beigebracht hat", sagt Stötzel. "Das muss man fördern."
Islam und Kirchenorgel spielen - kein Widerspruch!
Seitdem treffen sich die beiden meist einmal pro Woche und üben. Stötzel erklärt Ejazi, der Muslim ist, auch die theologischen Hintergründe von Bachs Kompositionen. "Denn die sind zum Verständnis der Stücke wichtig, etwa die Kreuzsymbolik im 'Credo'", sagt er.
Für Ejazi ist es kein Widerspruch zu seiner eigenen Religion, sich mit dem Christentum auseinanderzusetzen und in einer Kirche Orgel zu spielen. "Im Gegenteil", sagt er: "Im Koran steht, dass man sein ganzes Leben lang lernen soll."
Bach bleibt
Gemeinsam mit Stötzel erlebte Ejazi die ersten Konzerte seines Lebens, eines mit Stücken von Max Reger und eines mit Bachs h-Moll-Messe. "Vorher habe ich so etwas nur auf Youtube gehört", sagt der 19-Jährige. "Und plötzlich bin ich in Deutschland, dem Heimatland von Bach, und lerne das Orgelspielen von einem Lehrer wie Herrn Stötzel. Ich könnte nicht dankbarer sein."
Ob Ejazi dauerhaft in Bachs Heimatland bleiben kann, ist noch unsicher. Seine Familie wartet auf die Entscheidung über ihren Asylantrag. Gerne würde Ejazi, der zurzeit die zehnte Klasse eines Gymnasiums besucht, Abitur machen und später vielleicht Informatik studieren. Egal wie es kommt: "Ich werde nie aufhören, Musik zu machen und weiter zu lernen", sagt er. Die Musik werde bleiben. Genau wie Bach.