Viel steht auf dem Spiel: die Demokratie in Indonesien und der Ruf des Landes als ein Beispiel für religiöse Toleranz. "Ein Freispruch für Ahok ist kaum vorstellbar", sagt der Indonesienexperte von Human Rights Watch (HRW) Andreas Harsono telefonisch aus Jakarta. "Von den 130 Blasphemieverfahren der letzten Jahre endete nur einer - der Fall einer Verunglimpfung des Hinduismus - mit einem Freispruch."
Gleich wie das Verfahren ausgeht, es wird die indonesische Gesellschaft verändern. Der politische Islam hat endgültig die politische Bühne Indonesiens betreten. Sowohl religiöse Minderheiten, allen voran die Christen, als auch ethnische Minderheiten fürchten sich vor einer wachsenden Intoleranz in dem Land mit dem weltweit größten muslimischen Bevölkerungsanteil.Was ist geschehen? In Jakarta tobt der Wahlkampf. Es geht um die Neuwahl des Gouverneurs der problembeladenen Zwölf-Millionen-Einwohner- Metropole. Als Verwaltungsreformer und Korruptionsbekämpfer war Ahok der aussichtsreichste Kandidat für die Wahl im Februar 2017. Einen Christen und einen ethnischen Chinesen an der Spitze des mehrheitlich islamischen Jakarta aber lehnt die radikale Islamische Verteidigungsfront (FPI) strikt ab.
Bis vor ein paar Wochen spielten die FPI-Proteste gegen Ahok keine große Rolle. Ahok lag in den Umfragen vorne. Bis ein manipulierter Videomitschnitt einer Rede Ahoks auf Facebook auftauchte und 100.000-fach geteilt wurde. Darin warf Ahok den Islamisten vor, den Koranvers Almeida 51 gegen ihn zu verwenden. In dem Vers werden Muslime aufgefordert, keine Bündnisse mit Juden oder Christen einzugehen. In der FPI-Lesart des Koran heißt das: Es ist Muslimen verboten, einem Ungläubigen ihre Stimme zu geben.
Der Videomitschnitt wurde so manipuliert, dass sich Ahoks Äußerungen plötzlich nicht mehr gegen seine Kritiker richtet, sondern gegen den Koran. Damit war der Blasphemiefall geboren. Und geht nicht mehr weg. Obwohl das Originalvideo ebenfalls Online ist, Ahok sich für seine unbedachte Äußerung entschuldigte und Islamwissenschaftler in der Rede Ahoks nicht den Hauch einer Verunglimpfung des Koran erkennen konnten.
"Indonesien könnte ein zweites Pakistan werden"
Für die sunnitische FPI ist das manipulierte Video ein politischer Freistoß. Seit vielen Jahren geht die Islamische Verteidigungsfront als selbsternannte Hüterin der Scharia aggressiv und gewaltsam gegen christliche Kirchen, Moscheen der Minderheiten der Schiiten und Ahmadiya sowie gegen Homosexuelle vor und zwang 2012 Lady Gaga, ihr ausverkauftes Konzert in Jakarta abzusagen.
Dem FPI-Aufruf zu Demonstrationen gegen Ahok folgten am 2. November 200.000 und am 4. Dezember 500.000 Muslime. Am 4. Dezember trat gar Staatspräsident Joko Widodo gemeinsam mit den FPI-Chef auf. Einerseits wird Widodo für diesen taktischen Schachzug zu Milderung der Spannungen in Jakarta gelobt. Andererseits fürchten Beobachter einen langfristigen Effekt. "Widodo hat damit die FPI hoffähig gemacht", sagt HRW-Experte Harsono.
Die FPI agiert nicht im luftleeren Raum. In Jakarta pfeifen es die diplomatischen Spatzen von Dächern ihrer Botschaften, dass die FPI-Kampagne gegen Ahok politisch und finanziell von dem ehemaligen Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono sowie von Megawati Soekarnoputri, der Vorsitzenden der "Demokratische Partei Indonesiens — Kampf" (PDI-P), unterstützt wird.
Deren Motive sind billig. Der Sohn von Susilo Bambang Yudhoyono ist einer der Gegenkandidaten von Ahok im Gouverneurswahlkampf. Die politisch unberechenbare Megawati Soekarnoputri betreibt den Sturz von Staatspräsident Joko Widodo, dessen Zögling Ahok ist.
Widodo ist zwar auf dem Ticket der PDI-P ins Präsidentenamt gekommen, lässt sich aber nicht als Marionette der egozentrischen Megawati Soekarnoputri missbrauchen. Das missfällt der Dame, die 2013 zähneknirschend, wohl wissend um ihre extreme Unpopularität im Volk, zugunsten des charismatischen Widodo auf eine Präsidentschaftskandidatur verzichtet hatte. "Sowohl Megawati als auch Susilo Bambang Yudhoyono sind der Überzeugung, die Islamisten unter Kontrolle halten zu können", sagt Harsono und fügt warnend hinzu: "Indonesien könnte ein zweites Pakistan werden. Auch dort glaubten Politiker, die Extremisten für ihre Zwecke nach Belieben nutzen zu können. Das ging bekanntermaßen schief."
Mit Hilfe des Blasphemievorwurfs gegen Ahok hat es die FPI geschafft, eine breite Allianz aus Islamisten, antichinesischen Rassisten, Christenhassern und jenen armen Muslimen aus Nordjakarta zu schmieden, die Ahok aus ihren Slums vertrieben hat. Diese unheilige Mischung aus Religion, Rassismus und Politik bedeutet nichts Gutes für Weihnachten und über die Weihnachtszeit hinaus für die Christen und die Chinesen (von denen viele auch Christen sind). "Wir erleben eine Islamisierung der Gesellschaft, die auch schon die Führungsetagen der Wirtschaft erreicht hat. Nicht-muslimische Manager werden aus ihren Positionen gedrängt."
Die Christen sind verstummt
Das andere Indonesien, die Mehrheit der toleranten und friedlichen Muslime, ist gegen die Islamisten machtlos. Einige Tausend Muslime haben zwar in den vergangenen Wochen in Jakarta für ein Indonesien der Toleranz und Harmonie demonstriert. Aber es waren eben nur einige Tausend und nicht Hunderttausende. "Die moderaten Muslime sind nicht so gut vernetzt, organisiert und finanziert wie die radikalen Gruppen", weiß Harsono.
Müssen sich Christen jetzt Sorgen machen und zu Weihnachten Angst um ihre Sicherheit haben? "Auf jeden Fall", sagt Harsono klar. "Die FPI wird diesen Koranvers auch weiterhin für ihre Propaganda gegen Christen nutzen."
Die Christen sind in dieser spannungsgeladenen Adventszeit verstummt. Kein Vertreter der protestantischen Kirchen und der Katholiken mochte sich für diesen Artikel zu dem Kesseltreiben gegen Ahok äußern. Anfragen per Email und SMS an den Dachverband der evangelischen Kirchen (PGI) blieben unbeantwortet, Anrufe wurden nicht angenommen. Sie wissen: Was auch immer sie sagen, kann und wird gegen sie verwendet werden.
Es gibt doch noch mutige Politiker
Ein kleiner Hoffnungsschimmer kommt derweil aus Bandung. Am Dienstag vergangener Woche hatten Mitglieder der radikalen "Verteidiger des sunnitischen Islam (PAS) die Weihnachtsfeier der protestantischen Kirchengemeinde "Christian Revival Service" in einem Konferenzzentrum in Bandung gestürmt. Die PAS rechtfertigte den Angriff mit der angeblich fehlenden behördlichen Genehmigung für eine religiöse Veranstaltung an einem öffentlichen Ort. Die Islamisten hatten allerdings die Rechnung ohne Bürgermeister Ridwan Kamil gemacht. Der 45 Jahre alte parteilose Moslem stellte unverzüglich klar, dass die Protestanten über die behördlichen Genehmigungen verfügten.
Am 11. Dezember schickte Ridwan Kamil nach Rücksprache mit den islamischen Religionsbehörden den Islamisten über Facebook ein Ultimatum: "Die PAS muss sich innerhalb von sieben Tagen gegenüber dem Christian Revival Service ... entschuldigen und gegenüber der Stadtverwaltung schriftlich erklären, sich immer an die Gesetze der indonesischen Regierung zu halten ... Sollte die PAS diese Aufforderung ignorieren, wird die Stadtverwaltung von Bandung der PAS jegliche Aktivität in der Stadt verbieten."
Es gibt also doch noch mutige muslimische Politiker, die den Islamisten die Stirn bieten.