Eine Person mit weißem Schopf und Haarspange sitzt in der Berliner Zwölf-Apostel-Kirche und hört angestrengt zu. Sie versteht nicht alles, wendet sich der tippenden Reporterin zu und fragt: "Kann ich Ihre Notizen haben?" Schiebt einen Zettel mit ihrer E-Mail-Adresse rüber, darauf: ein männlicher Vorname. Ist die Person ein Mann oder eine Frau? An diesem Montagabend sitzen einige Menschen mit transsexuellen Biografien in den Stuhlreihen, bei denen man sich diese Frage stellen könnte (aber eigentlich ja gar nicht muss). Sie wollen zuhören, mitreden und vor allem: Sie wollen gehört werden mit ihren Geschichten und Erlebnissen.
Die Diskussion am Montagabend konnte natürlich nicht alle Aspekte des Buches aufgreifen. Aber sie gab Einblicke in die Erfahrungs- und Gefühlswelt von Menschen mit transsexueller Biografie. "Sind Sie nach der Geschlechtsangleichung überhaupt noch trans?", fragte jemand aus dem Publikum, und ob es nicht nervig sei, immer wieder auf diesen Teil der Lebensgeschichte angesprochen zu werden. "Ich sag's lieber gleich und gehe bewusst in die Medien, bevor ich immer Angst habe, es fliegt auf", antwortete die bayerische Pfarrerin Dorothea Zwölfer. Erste Versuche, in ihrem Beruf weiterzuarbeiten, ohne es explizit zu sagen, waren zum Teil unerfreulich ausgegangen. "Wir wollen keine von Sankt Pauli", hatte ein Angehöriger einer verstorbenen Person vor der Beerdigung gesagt, und eine Mutter meldete ihre Tochter vom Reli-Unterricht ab mit der Begründung, eine Transfrau als Lehrerin könne kein Vorbild für das Mädchen sein. Wenn Dorothea Zwölfer von solchen Erlebnissen erzählt, merkt man, dass die seelische Verletzung tief sitzt.
Woher kommen Vorurteile, Angst, Transphobie? Vermutlich daher, dass Menschen vom Erscheinungsbild macher Transsexueller erst einmal irritiert sind und unwillkürlich ein Assoziation zum Rotlichtmilieu herstellen ("Sankt Pauli") – zu einer Welt jedenfalls, die nicht ihre geordnete Vater-Mutter-Kind-Welt ist. Heute scheint viel mehr möglich zu sein als früher, die Ordnung scheint ins Wanken zu geraten, und für manche ist die Vielfalt der Geschlechter und Liebensweisen, die ja auch öffentlich thematisiert wird, ein Zeichen für dieses Wanken. "Alles ist im Fluss, das macht die Leuten Angst. Sie haben Angst, dass sie in ihrer Identität in Frage gestellt werden oder in ihrer Lebensweise", fasste Kristin Bergmann, Leiterin des Referates für Chancengleichheit bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), zusammen. Zugleich bedauerte sie, dass Menschen "von der Kirche erwarten, dass sie Grenzen zieht und nicht Brücken baut". Doch Bergmann versucht lieber Brücken zu bauen, Verständnis zu wecken, aufzuklären.
Morgen- und Abenddämmerung
Immer wieder wird in christlichen Kreisen mit der Schöpfungsgeschichte argumentiert. Da stehe doch "… schuf sie als Mann und Frau" (1. Mose 1,27), wird dann gesagt, "Gott macht keine Fehler", also gebe es auch nur entweder Mann oder Frau. "Mir wurde auch vorgeworfen, gegen die Schöpfungsordnung zu verstoßen", erzählte Dorothea Zwölfer auf dem Podium und wunderte sich: "Woher wusste der das eigentlich? War der bei meiner Schöpfung dabei?" Heiterkeit im Publikum – weil der Vorwurf so absurd ist. "Menschen sehen immer die Oberfläche, aber Gott sieht das Herz an", zitierte die Pfarrerin einen Vers aus 1. Samuel 16,7 – eine Bibelstelle, die in der theologischen Debatte um Transsexualität viel tiefer und weiter führt als das Herumreiten auf der Schöpfungsgeschichte.
Ärgerlich fanden es einige Diskussionsteilnehmer, dass in der revidierten Lutherbibel 2017 wieder "Mann und Frau" im 1. Buch Mose steht und nicht – wie es wörtlich korrekt übersetzt wäre – "männlich und weiblich". Denn mit den Adjektiven käme besser zum Ausdruck, dass es auch Menschen dazwischen gibt. "Männlich und weiblich – ja – und das dazwischen auch", bekräftigte Amelie Zapf, Jüdin mit transsexueller Biografie. Der Theologe Gerhard Schreiber verglich die biblische Binarität der Geschlechter mit der Gegenüberstellung von "Nacht" und "Tag", ebenfalls aus dem Schöpfungsbericht. Auch da gebe es schließlich Morgen- und Abenddämmerung, "Phasen des Übergangs, und genauso würde ich das für Mann und Frau sehen". Mehr noch: Die Zwischenstufen gelten nicht nur für Menschen mit transsexueller Biografie, meint Schreiber: "Wenn man wahrnimmt, was die Wissenschaft sagt, sind wir alle Ausnahmen." Kein Mensch ist wie ein anderer, keiner entspricht einem festgelegten Bild, und gerade so sind wir "Ebenbild Gottes mit unverlierbarer Würde". Der Theologe Dirk Evers drückt das in dem Buch so aus: "In der wechselseitigen Bezogenheit und in seiner sexuellen und geschlechtlichen Diversität entspricht der Mensch seinem Schöpfer."
Denen, die meinen, mit dem heutigen "Zeitgeist" werde alles beliebig und jeder könne sich sein Geschlecht "aussuchen", widersprechen Amelie Zapf und Dorothea Zwölfer. Nicht nur, weil in ihrem Leben von einer "Wahl" des Geschlechts keine Rede sein kann, sondern auch mit Blick in die religiösen Schriften, der zeigt: Transsexualität ist kein neues Phänomen, natürlich nicht. Von Seiten der Religionen gab es noch nicht einmal grundsätzliche Ablehnung. In einer der ältesten Schichten des Talmud hat die Jüdin Zapf folgenden Gedanken eines Rabbiners gefunden: "Androgyne Menschen sind Geschöpfe für sich." Sie freut sich über diesen Fund: "Aha – wir waren ja doch schon immer da!" Pfarrerin Zwölfer zählte die Stellen auf, wo Transsexuelle als "Eunuchen" in der Bibel vorkommen: In der Apostelgeschichte zum Beispiel (Kapitel 8,26-40), in der Geschichte von Philippus und dem Kämmerer aus Äthiopien, der durch seine Taufe explizit in die christliche Gemeinde aufgenommen wird. "Das fand ich so eine schöne Stelle", schwärmte Dorothea Zwölfer. Wer Menschen mit transsexueller Biografie – oder auch gleichgeschlechtlich Liebende – aus der Gemeinde ausgrenzt, muss sich nach seinen Kriterien fragen lassen: Zählt die Reproduktionsfähigkeit oder das Bekenntnis zu Jesus Christus?
Begegnung, Zuhören und Verstehen
Auch wenn es nur um eine kleine Minderheit geht – die Frage der Akzeptanz transsexueller Menschen in christlichen Kreisen ist deswegen so relevant, weil sie theologische Kernthemen wie die Gottebenbildlichkeit und die Gleichwertigkeit aller Menschen in der Gemeinde (Galater 3,28) berührt. "Haben wir es geschafft, das Thema so zu behandeln, dass Menschen, die sich nicht jeden Tag damit auseinandersetzen, überhaupt mitkommen?", fragte sich Kristin Bergmann selbstkritisch. "Das Thema Transidentität müsste offener verhandelt werden", auch in den Kirchengemeinden, mit einfachen Worten und lebensnah. Bergmann empfiehlt eine Materialsammlung mit Gottesdienstentwurf, die die EKD zum Tag der Menschenrechte herausgegeben hat, inklusive Begriffserklärungen.
Was man kennengelernt hat, macht dann hoffentlich in Zukunft weniger Angst, gerade wenn die eigene Kirchengemeinde eine positive Würdigung ausspricht. Gerhard Schreiber hat einfach nur die "Hoffnung, dass man diese Menschen, die man zuvor nicht wahrgenommen hat, wahrnimmt". Und ohne ihm das Wort im Munde umdrehen zu wollen: Nicht nur Transsexuelle wollen und sollten wahrgenommen werden, sondern auch die "normalen" Familienmenschen, die sich um die Ordnung der Welt sorgen. Das einzige, was weiterhilft, ist Begegnung, Zuhören und Verstehen.
Die Person mit der Haarspange bedankte sich übrigens dann noch per Mail für die Notizen - und unterschrieb mit einem weiblichen Vornamen.