Das Bild hat erschüttert: Ein 82-jähriger Mann liegt auf den weißen Kacheln einer Essener Bankfiliale, er ist kollabiert. Die Überwachungskamera zeichnet auf, wie vier Menschen an ihn vorbeigehen oder sogar über ihn steigen, um zum Bankautomaten zu kommen. Erst ein fünfter Kunde ruft nach 20 Minuten den Notarzt. Zu spät – der Mann stirbt Tage später im Krankenhaus.
Der Fall des alten Mannes erschütterte auch die Diskussionsrunde. "Empörend und fassungslos" machten ihn die Aufnahmen, sagte Innenminister Thomas de Maizière. Der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber ergänzte: "Das Mindeste besteht darin, den Notruf zu betätigen. In diesem Fall besteht der Strafbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Der Rechtsstaat darf kein zahnloser Tiger sein. Aber es geht auch um Nächstenliebe." Der Kriminologe Christian Pfeiffer lieferte gleich eine mögliche Erklärung für die vermeintliche Verrohung: "Vielleicht sind die Menschen überfüttert von Bildern Notleidender und sind abgestumpft, wenn ihnen ein Mensch in Not unmittelbar begegnet."
"Der überwiegende Teil ist hilfsbereit und anständig"
Aber ist dieses Video wirklich ein Beweis dafür, dass die Gesellschaft verroht? Gegen die Einordnung als "Szene aus dem deutschen Alltag" spricht das Entsetzen, dass dieser Fall ausgelöst hat. De Maizière positionierte sich: "Es gibt eine Verrohung. Aber das ist nicht die volle Wirklichkeit unserer Gesellschaft. Der überwiegende Teil ist hilfsbereit und anständig." Statistiken hätten an dieser Stelle aufklären können: Nimmt die Hilfsbereitschaft tatsächlich ab oder ist das eine der vielen gefühlten Wahrheiten, die in diesen Tagen kursieren? Das TV-Publikum erhielt keine Aufklärung. Stattdessen erzählten die Talkgäste, wie sie in Alltagssituationen Zivilcourage gezeigt haben. Der Erkenntnisgewinn für den Zuschauer ging gegen null.
Mehr Fakten gab es zum Thema Gewalt. Auch hier hatte die Redaktion drastische Beispiele gewählt: In Düren greift ein 46-jähriger Mann einen Mitarbeiter des Ordnungsamtes an, der Knöllchen verteilt. Als die Polizei eintrifft, kommen auch die vier Söhne des Mannes dazu und schlagen auf die Polizisten ein. Am Ende sind zehn von ihnen verletzt, der Vater und ein Sohn sitzen im Untersuchungshaft, die anderen zwei sind auf der Flucht. Noch brutaler erscheint die Tat in Hameln.
Scheinbar widersprüchlich zu diesen Nachrichten erklärte der Bundesinnenminister, dass die Zahl der Gewalttaten in Deutschland insgesamt zurückgingen, auch die mit schwerer Gewalt. "Eine Zunahme gibt es allerdings bei politisch motivierten Gewaltakten sowohl von rechts als auch von links. Die Aggression wendet sich auch gegen Polizisten, weil diese für den Staat stehen", erklärte de Maizière. "Gegenüber dem Staat sind bei einigen die Sicherungen rausgeflogen", bestätigte auch Huber. Jeder wolle viel von ihm haben, aber wenig für ihn tun. In Vorbereitung auf der Sendung habe er sich nochmal die Szenen vom diesjährigen "Tag der deutschen Einheit" in Dresden angesehen – Politiker sind dort angepöbelt und ausgebuht worden. "Das war eine unglaubliche verbale Gewalt", sagte der Theologe.
Plasbergsche Sprachverrohung?
Wer sich darüber hinaus von der Sendung Orientierung oder Erkenntnis gewünscht hatte, wurde enttäuscht. Frank Plasberg präsentierte ein Beispiel für Verrohung nach dem anderen, Einordnung fiel meistens weg. So wirkte diese Ausgabe von "hart aber fair" teilweise wie ein Newsfeed, in dem eine Schreckensmeldung nach der anderen einläuft. Dass gerade so ein Sendungsaufbau den Eindruck einer verrohten Gesellschaft vermitteln und so Ängste schüren kann, wurde jedoch nicht thematisiert.
Ansonsten muss man vor allem der Besonnenheit der Gäste zuschreiben, dass die Diskussion nicht völlig verfranzte und zwischendurch auch wichtige Gedanken aufkamen. Lediglich Renate Künast und Thomas de Maizière leisteten sich frühe Wahlkampfdiskussionen – etwa bei der Frage nach Überwachung und Bestrafung.
Frank Plasberg muss sich nach dieser Sendung fragen lassen, wie es um die eigene Verrohung steht: Als er den Fall des 82-jährigen Mannes schilderte, wies er mehrfach darauf hin, dass der Mann "gepflegt gekleidet" gewesen sei, fragte, ob bei einem alkoholisierten Menschen die Reaktionen der anderen Kunden verständlicher seien und sprach von der "Angst, dass es ein Obdachloser ist". Diese Sprachbilder klangen so, als ob Hilfsbereitschaft dort aufhört, wo Menschen nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft stehen. Huber fand dafür klare Worte: "Das ist keine Entschuldigung. Gerade Menschen in schwerer Not muss man helfen."