"Den Isenheimer Altar sah ich 2x, ein gewaltiges Werk von unerhörter Kühnheit und Freiheit abseits aller 'Komposition' oder Konstruktion und unerklärlich geheimnisvoll in seinen Zusammenhängen", schrieb Otto Dix an seine Frau Martha. Der Brief vom 9. September 1945 ist derzeit zusammen mit mehr als 100 Werken des Malers im Museum Unterlinden im elsässischen Colmar zu sehen. Sie illustrieren den Einfluss der berühmten religiösen Bildtafeln von Matthias Grünewald auf das Dix’sche Schaffen.
Mit der Ausstellung feiert das Museum gleich zwei Ereignisse: den 125. Geburtstag von Dix und das 500-jährige Bestehen des Altars - das Herzstück des Colmarer Museums.
Von Pablo Picasso über Paul Klee bis zu Georg Baselitz und Adel Abdessemed: Die dramatischen Bildtafeln der Kreuzigung und Auferstehung Christi haben zahlreiche Künstler inspiriert. Am empfänglichsten für das Passions-Schauspiel war jedoch Dix. Nur er habe sich während seiner ganzen Schaffenszeit auf den Isenheimer Altar bezogen, erklärt die Kuratorin Frédérique Goerig-Hergott. Deshalb sei es fast schon eine Pflicht gewesen, nach der Wiedereröffnung des um rund 4000 Quadratmeter erweiterten Museums im Januar 2016 die erste zeitgenössische Ausstellung Dix zu widmen.
Expressionistische Darstellung des Leidens Christi
Dix ist, wie viele deutsche Expressionisten, in Frankreich kaum bekannt. Die letzte umfassende Werkschau in Paris fand 1972 statt. Darauf, dass Colmar ihm nun eine Geburtstagsausstellung widmet, sei man besonders stolz, sagt die Kunsthistorikerin. Das Museum besitzt mit acht Werken in Frankreich eine der größten Sammlungen des Malers und Grafikers, darunter zwei Gemälde und zwei Zeichnungen aus seiner Colmarer Zeit. Der am 2. Dezember 1891 in Thüringen geborene Dix befand sich von April 1945 bis Februar 1946 im Gefangenenlager in Colmar-Logelbach. In dieser Zeit soll er rund 75 Werke entworfen haben, wie die Ausstellungskommissarin erklärt.
Der Einfluss des Altarmalers Grünewald auf Dix wird schon in seiner ersten expressionistischen Phase sichtbar. Auf seiner "Pietà" aus dem Jahr 1910 ist der Gekreuzigte mit aufgebrochenen Pestbeulen abgebildet, der von einer verzweifelten Muttergottes in den Armen gehalten wird. Dix malt hier einen schmerzverzerrten, hässlichen Körper, so wie Grünewald. Der um 1480 in Würzburg geborene Maler gilt als Vorläufer des Expressionismus. Denn vor ihm hat niemand das Leiden Christi so brutal dargestellt wie er.
Das Kreuzigungsmotiv steht bei Dix für die Grausamkeit der Zeit, die sich im Krieg und Faschismus äußert. Das unsägliche Entsetzen des Ersten Weltkriegs setzte der Maler Anfang der 1920er Jahre in seinem heute verschollenen "Schützengraben" und seinem Graphik-Zyklus "Der Krieg" um. Mit der Darstellung des Triptychons "Der Krieg", an dem er zwischen 1929 und 1932 gearbeitet hat, erreicht das Grauen der von Granaten zerfetzten Soldatenkörper und der ikonografische Einfluss der Altarbilder seinen Höhepunkt.
"Der Krieg" ist ein Highlight der Werkschau
Das Werk, das auch seine eigene brutale Erfahrung als Soldat aus dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck bringt, wurde im Lagerraum eines Freundes vor den Nazis versteckt, denn die Arbeiten von Dix wurden als "entartet" eingestuft. Heute ist das Gemälde in der Galerie Neuer Meister in Dresden zu sehen. Von dem monumentalen Triptychon ist in Colmar leider nur eine Reproduktion zu sehen. Das Werk als Leihgabe zu bekommen sei ebenso unmöglich wie den Isenheimer Altar, sagte die Kuratorin.
Auch die "Madonna vor Stacheldraht" aus dem Jahr 1945 gehört zu den Highlights der Werkschau. Es ist das letzte von Dix gemalte Triptychon und hat seinen Platz gewöhnlich in Berlin-Mariendorf in der Kirche Maria Frieden. Die Arbeit war für die katholische Kapelle des Gefangenenlagers bestimmt, in das Dix drei Wochen vor Ende des Zweiten Weltkriegs gekommen war. Dix hat es während seiner Inhaftierung gemalt. Darauf abgebildet sind die Heilige Jungfrau mit Kind sowie die Heiligen Paulus und Petrus vor einer Schar Kriegsgefangener und einer vom Krieg zerstörten Häuserlandschaft.