Herr Drewermann, wenn Sie jetzt zurückdenken, 25 Jahre später, an den 8. Oktober 1991, wie geht es Ihnen dann?
Ihr Leben hat es nicht verändert?
Drewermann: In keiner Form. Was ich auch damals dem Bischof gesagt habe: Sie können mir nichts nehmen. Sie werden nicht ganz viele Theologen finden, die Predigten so halten, dass sie einer Vorlesung entsprechen und die Vorlesung so halten, dass sie eine Predigt werden. Das gehört zu mir, das können Sie im Kircheninnenraum verbieten, aber nicht mir als Person. Desgleichen nicht das Bücherschreiben: Ich habe in keiner Zeile von tausenden von Seiten mir Gedanken gemacht, was Sie als Bischof davon denken. Ich denke: Wie formuliere ich diesen Satz, wie wähle ich dieses Wort, wie füge ich den Gedanken ein, dass es der Frau, dem Mann, der vor ein paar Tagen bei mir war, helfen kann.
Dennoch haben Sie einmal gesagt, dass Sie lange Zeit um Kompromisse bemüht gewesen waren.
Drewermann: Kompromisse habe ich eigentlich nie gesucht. Ich habe versucht, die kirchliche Position so zu interpretieren, dass sie den Menschen nicht schädlich wird, im Kircheninnenraum aber als tolerabel erscheinen kann. Ich habe vielen, die in der kirchlichen Moraltheologie vor allem als Gescheiterte definiert werden, Brücken bauen wollen. Und dann hatte ich die Absicht, die kirchlichen Lehren zu vertiefen: Zum Beispiel Wörter, die kaum noch gebraucht werden: Erbsünde und Erlösung – das ist für mich das Schlüsselthema. Das versteht nicht einmal mehr im protestantischen Raum irgendjemand noch. Die Folge ist eine erstaunliche Reduktion des menschlichen Lebens auf ethische Durchhalteparolen. Dass man die Tiefe der existenziellen Fragestellungen überhaupt nicht artikuliert. Aber das ist die ganze Botschaft Jesu.
Wie das?
Drewermann: Eine Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten zugunsten derer, die ausgegrenzt sind, und im Grund gar keine Chance haben. Man müsste nur das Wort ändern: Man spräche nicht von Sünde, man spräche von Verzweiflung. Das ist Kierkegaards Vorschlag vor mehr als 160 Jahren. Schon wüsste man, dass es keinen Sinn hat, mit erhobenen Zeigfinger zu sagen: Nun mach doch mal! Sieht man Verzweiflung, dann muss man sich als Person der Not des anderen aussetzen und tun, was Jesus in einem kleinen Gleichnis schildert: auf die Suche gehen nach dem Verlorenen und ihn auf den Schultern zurück nach Hause tragen.
"Ich konnte damals nur sagen, wie heute: Das Grab war niemals leer"
Sie haben also lange Brücken gebaut, indem sie Übersetzungsarbeit geleistet haben, jetzt tun sie es nicht mehr?
Drewermann: Ja, das ist nie verstanden worden. Ich tu es für die Leute, die es betrifft. Für die Kirche kann ich es nicht mehr tun, weil sie bis heute nicht verstehen möchte. Und dann die Themen, die mich wirklich ärgern…
Zum Beispiel, dass der Bischof Ihnen vorgeworfen hat, Sie würden die Auferstehung leugnen…
Drewermann: Ich sehne mich nach Menschen, die eine Hoffnung haben angesichts des Todes. Ich kann Ihnen schwer sagen, wie flehentlich ich Menschen begleite, um ihnen Hoffnung zu geben gegenüber der Sinnlosigkeit der Biologie in dieser Welt. Und ich stoße bei dem allergrößten Teil im Kircheninnenraum auf die glatte Erklärung, dass mit dem Tod das Leben endet. Um dann zu hören, dass, wer nicht an das leere Grab im physikalischen Sinne glaubt, nicht an die Auferstehung glaubt. Ich konnte damals nur sagen, wie heute: Das Grab war niemals leer. Die Bibel sagt, da war ein Engel drin, bei Johannes waren es zwei. Wie sieht man einen Engel, Herr Erzbischof? Was sieht man, wenn ein Mensch stirbt? Und welche Hoffnung vermittelt man? In den Sinnen ist keine Aussage. Es gibt Bilder und die Person Jesu, daran möchte ich glauben, aber dann kann ich nicht mit fundamentalistischen Festschreibungen falsch historisierter Informationsauslegung des Neuen Testamentes kommen. Das treibt die Zwölfjährigen in den Atheismus.
Was hat dann das Fass zum Überlaufen gebracht?
Drewermann: Ich habe irgendwann gemerkt dass, die zuständigen Behörden das nicht mehr wollten: Ratzinger, der der damals Chef der Glaubenskongregation war, Degenhardt, den man zur Verurteilung angewiesen hat. Es entstand eine Situation, in der ich Stellung nehmen musste, wo es gar kein Zurück gab. Es geht in solchen Fällen gar nicht darum, Kompromisse zu finden, es geht darum zu sagen, was als evident, als wahr, als gültig erscheint. Sie haben mir geholfen noch klarer zu sehen: Mit dieser Verfassung in der Kirche soll ich nicht leben. Daraus wurde: Will ich auch nicht leben – und kann ich auch nicht leben.
Sie sind dann auch 2005 aus der katholischen Kirche ausgetreten. Glauben Sie noch an so etwas wie Kirche?
Drewermann: Ich glaube an die unsichtbare Kirche. Zu der gehört Platon, Sokrates ganz bestimmt, Mahatma Gandhi… Wer nicht, würde ich fragen. Sobald Sie anfangen, einem Menschen zuzuhören, finden Sie in ihm etwas, das zutiefst erinnert zumindest an das Suchen nach Arten der Geborgenheit, des Schutzes, des Vertrauens, des Lebendürfens, der Liebe. Ohne die kann ein Mensch überhaupt nicht sein und die alle gehören dann zur Kirche. Ob sie in der Form reflektieren, ob das irgendwas mit dem zu tun hat, was römisch-katholisch heißt, ist nicht mehr mein Problem.
Hätten Sie es für möglich gehalten, vor 25 Jahren eine zweite Reformation auszulösen?
Drewermann: Es gab in Frankreich Leute die von mir redeten als dem neuen Luther: "Der Mann, der die Kirche zittern lässt." Es war die reine Hysterie. Mir geht es nicht um die Kirche, mir geht es um den Einzelnen, der vor mir sitzt, um die verlorenen Schafe. Um die Menschen, die nicht weiter wissen.
"Es gibt eine Schweigemauer, die vollkommen fest ist"
Hätte es dafür überhaupt irgendeine Form von Kirchlichkeit, von Religiosität, von Tradition gebraucht?
Drewermann: Es ist tröstlich, dass es Riten gibt, die man nicht persönlich erfinden muss. Es kann eine große Hilfe sein in Krisenaugenblicken fertige Gebete schon zu kennen. Oft weiß ich selbst nicht weiter und dann ist das Vaterunser eine unglaubliche Hilfe oder ein Psalm. Natürlich ist das, von mir aus, nur durch Tradition, wenn Sie so wollen, durch Menschen, die schon glauben, also durch Kirche überliefert worden. Aber es sind – im schönsten Sinne – Bilder auf der Höhe der Malerei, die geboren wurde im Christentum, der Musik, die entstanden ist im Christentum, die Dichtung, die sich da gebildet hat. Und ließen wir’s da – es wäre offen genug. Sie könnten mit einem Dichter, einem Maler, einem Musiker nicht in Konkurrenz gehen, nicht recht haben, nicht sich verfestigen.
Heutigen Theologie-Studenten mag es wahrscheinlich ungeheuerlich vorkommen, für welche Aussagen Sie damals verurteilt wurden…
Drewermann: Ich habe damals ein dickes Buch drucken lassen – "Worum es eigentlich geht – Protokoll einer Verurteilung" –, weil ich dachte: Das glaubt mir in 20 Jahren kein Mensch. Jeder wird sagen: Du hast doch gesponnen, das können die doch nicht gemeint haben. Aber in der Gesprächsaufzeichnung steht es: Ich frage den Bischof: Glaubt man an die Himmelfahrt Jesu nur, wenn man sie sehen kann, historisch? Seine Antwort ist: Ja! Ich glaube, dass es ein Bild ist: Jesus hat die Welt auf den Kopf gestellt. Aber das hat der Bischof überhaupt nicht verstanden.
Haben Sie vom Erzbistum noch mal Rückmeldungen bekommen?
Drewermann: Nein, seitdem gibt es keinerlei Gespräch mehr. Es gibt eine Schweigemauer, die vollkommen fest ist.
Das Erzbistum will sich zu ihnen auch nicht mehr äußern. Auch wenn es damals sicher einige gab, die mit ihnen sympathisierten…
Drewermann: Nicht im Kircheninnenraum. Das hat’s nie gegeben. Nein, es gab Beschlüsse damals in Österreich von der Bischofskonferenz – einhellig, im Übrigen – die kirchlichen Medien anzuweisen, über mich gar nicht oder nur negativ zu schreiben. Auch die Bildungshäuser und Buchhandlungen wurden angewiesen, nicht mit mir zu kooperieren. Das führte bis zur Vertreibung aus Ämtern. Es regierte die Angst. Übrigens auch bei den Theologen. Und ich wollte nicht meine eigenen Freunde in den Gegensatz hineintreiben. Die hätten nur sich selber ans Schafott liefern können.
Von den akademischen Theologen scheinen Sie ja nicht sonderlich viel zu halten…
Drewermann: Das ist einer meiner Lieblingssätze in Wolfgangs Borcherts "Draußen vor der Tür". Beckmann kommt aus dem Zweiten Weltkrieg und ist nirgendwo mehr zuhause. Und Beckmann spricht so: "Wer hat ihn eigentlich so genannt: 'lieber Gott'? Wann bist du eigentlich lieb, lieber Gott! Warst du lieb, als du meinen Jungen von einer brüllenden Bombe zerreißen ließt! Oder warst du lieb, als von meinem Spähtrupp elf Mann fehlten? Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht!" Für diese Menschen wollte ich Theologie machen. Gott ist ersoffen in der Tinte seiner Theologen. Und deshalb wollte ich nie Professor sein. Privatdozent, um da den Flur mal aufzumischen, war gerade richtig.
Ich habe den Eindruck, es haben sich viele danach gesehnt, auch einige Professoren…
Drewermann: Die Professoren haben sich mit mir in dem Sinne nie solidarisiert, weil sie merkten, es stellt ihre Zunft in Frage. Die historisierte Fragestellung hat mit Glauben nichts zu tun. Sie verwandelt alles in Rederei und Besserwisserei. Die kierkegaard‘sche Ausgangsposition haben die nie verstanden.
Was meinen sie?
Drewermann: Die Konzentration auf das Problem von Angst und Vertrauen. Selbst die besten Exegeten, die mir gar nicht übelwollten, scheiterten daran. Dass Menschen Angst haben, weil sie schuldig wurden, das kann ja jeder verstehen. Aber dass ein Mensch schuldig wird aus Angst, das überschritt ihr Vorstellungsvermögen. Und dann kommen die Plattitüden: Es werde in meiner Exegese alles reduziert auf Angst. Die haben sich nie die Mühe gemacht, zu begreifen, was Angst bedeutet: Es ist ein Fahrstuhl durch alle Ebenen der Existenz. Hatte ich alles lang und breit versucht zu zeigen. War nie interessant. Bei Leuten, die gut versorgt sind, gibt’s die Frage nicht. Tja.
Aber auch die haben doch Angst.
Drewermann: Die bestehen nur aus Angst. Sobald man sieht, was wäre, wenn sie man mal den Mund aufmachen würden, sind sie sofort erkennbar als Gefangene der Angst. Aber das merken sie ja nicht. Sie sind so gut angepasst, dass sie eigentlich nur Fahrrad bei Rückenwind fahren.
"Luther hat vor 500 Jahren begriffen, dass man nicht gerade darauf warten kann, dass eine Kirche einem erlaubt, ein freier Mensch zu sein"
Glauben sie, dass die Kirche heute liberaler ist?
Drewermann: Wie soll ich eine Kirche liberal nennen, die 40 Jahren nach der Würzburger Synode, bei einem Thema, das so viele Menschen betrifft – jede dritte Ehe in Deutschland wird geschieden – bei der Wiederverheiratung Geschiedener mit diesem Hin und Her antwortet, das wir gerade unter Franziskus sehen? Es ist unglaublich.
Mit welcher Position kann man in der katholischen Kirche heute richtig anecken?
Drewermann: Wenn Sie sagen: "Ich bin für aktive Sterbehilfe", sind Sie sofort in der Mühle. Aber klar: befürworte ich. Es gibt Situationen, wo ich mir wünsche, wir hätten das längst liberalisiert. An diesen Stellen ist die katholische Kirche der Hauptbremsklotz und hat einen enormen gesellschaftlichen Einfluss nach wie vor, in jeder Ethikkommission. Ebenso bei Fragen der Sexualmoral, bei Zölibatsfragen. Wenn Theologen, so wie Franziskus jetzt, in diesen Fragen von Barmherzigkeit und Vergebung sprechen, dann glaube ich, dass sie etwas Gutes damit meinen, aber es ist sachlich falsch: Diese Menschen haben nichts zu bereuen. Dann müssten sie ja auch den Menschen, den sie lieben, als Verführer verurteilen. Wenn jemandem was zu vergeben wär, dann wäre das der Kirche: Die hat den Glauben an die Liebe, die von Gott sei, relativiert. Die Kirche ist diejenige, die hier gescheitert ist, nicht die Menschen. So sieht’s aus. Luther hat vor 500 Jahren begriffen, dass man nicht gerade darauf warten kann, dass eine Kirche einem erlaubt, ein freier Mensch zu sein.
Sind Menschen in der evangelischen Kirche freier?
Drewermann: Sie könnten es sein - und sie wären nicht evangelisch, wenn sie das nicht wären. Aber die evangelische Kirche hat paradoxerweise gerade, wo sie Recht hat, mit der Konzentration auf den Einzelnen, in Beibehaltung der alten moralischen Ordnung neue Zwänge errichtet, die empfindlicher noch sein können, als die katholischen.
Was meinen Sie damit?
Drewermann: Ein Katholik kann sich zurückziehen ins Kollektiv in der verwalteten Kirche. Er kann drauf rechnen, dass er, wenn er nicht gerade, wie in den Beispielen vorhin, unbereubare Sünden begeht, eigentlich Vergebung heischen könnte. Ein Protestant muss die ganze Rechnung mit sich selber ausmachen.