Herr Köhler, warum sollte man sich als Nicht-Theologe überhaupt mit Luther beschäftigen?
Joachim Köhler: Luther war eine der prägendsten Gestalten des letzten Jahrtausends. Er hat die christliche Religion erneuert, den Gläubigen die Angst vor dem Fegefeuer genommen, den Deutschen eine neue, lebendige Sprache gegeben - vor allem aber den Menschen die Augen für ihre Freiheit geöffnet. Er nannte es die "Freiheit eines Christenmenschen".
Offenbar war ihm das Revolutionäre aber nicht von Anfang an vorherbestimmt, oder warum heißt ihr Buch im Untertitel "Der Befreite"?
Köhler: Sein Leben, das er als unerträglich bedrückend empfand, war durch mehrere dramatische Ereignisse erschüttert worden. Danach fühlte er sich wie ein neuer Mensch. Entscheidend war dabei die Entdeckung eines Gottes, der nicht straft, sondern verzeiht, und eines Christus, der nicht richtet, sondern rettet.
Welche Befreiungserfahrungen hatte er?
Köhler: Die erste brachte ihm die Loslösung vom Vater. Der autoritäre Bergwerksunternehmer Hans Luder hatte ihn zum Juniorchef bestimmt. Dazu sollte er Jura studieren und die für ihn bestimmte Braut heiraten. Der musisch und philosophisch Begabte wollte aber nicht. Da kam ihm der berühmte Blitz von Stotternheim gerade recht. Martin ging ins Kloster.
Und das Kloster brachte ihm Befreiung?
Köhler: Er kam vom Regen in die Traufe. Hier herrschte derselbe Zwang zur Unterordnung. Die Angst vor der Strenge des Vaters hatte sich nur in die vor dem "himmlischen Vater", dem alttestamentarischen Gott, verwandelt. In seiner Seelennot half ihm der Ordensobere Johann von Staupitz, der ihn mystische Gelassenheit lehrte und ihm den gnädigen Gott nahe brachte.
Was hat es denn mit dieser mystischen Theologie auf sich?
Köhler: Gott sitzt nicht irgendwo im Himmel auf seinem Thron, sondern er ist da. Und der Glaubende erfährt Christus nicht als historische Gestalt, sondern als gegenwärtig, nicht allein in der Schöpfung, sondern auch in sich selbst. Daher die Gelassenheit. Für Luther endete damit die Macht von Papst und Priesterschaft, die sich zwischen den Menschen und seinen Erlöser geschoben hatte. Er wollte einen radikalen Neuanfang.
"Die Schlüssel zum Paradies besaß nicht die Kirche, sondern Christus allein"
Und wie setzte er ihn durch?
Köhler: Mittels Frontalangriff. Die Haupteinnahmequelle der Papstkirche, den käuflichen Sündenerlass, erklärte er für unchristlich, den Papst für unbiblisch, die Priesterautorität für angemaßt. Die Schlüssel zum Paradies besaß nicht die Kirche, sondern Christus allein, und er schenkte ihn jedem, der an ihn glaubte. Durch den drohenden Scheiterhaufen ließ Luther sich nicht beirren. Nicht zufällig wurde der Ausspruch "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" zu seinem Markenzeichen. Diesen Ausspruch hat er tatsächlich getan. Wie er auch am 31. Oktober 1517 seine Ablassthesen selbst angeschlagen hat. Davon bin ich überzeugt.
Und worin bestand die dritte Befreiung?
Köhler: In der Relativierung der weltlichen Gewalt. Man war nicht länger den Herrschern unterworfen, sondern nur noch Gottes Geboten, an die sich selbstverständlich auch die Obrigkeit halten musste. Dass Luther wagte, sich auf dem Reichstag zu Worms 1521 gegen den Kaiser zu stellen, war eine epochale Tat, die bis heute nachwirkt: Ein Individuum auf Augenhöhe mit der höchsten Autorität - das war vor ihm undenkbar gewesen. Aber schon als er in Wittenberg den Ablass angriff, hatte er Neuland betreten.
Das Jubiläum des Thesenanschlages feiern wir im kommenden Jahr, war die Aktion denn auch für Luther ein Wendepunkt?
Köhler: Nach dem Thesenanschlag hat er seinen Namen geändert. Aus Martin Luder wurde für längere Zeit Martinus Eleutherius. Im Griechischen heißt das "der Befreite", aber auch "der Befreier". Gott hatte ihn befreit, damit er auch den anderen die Freiheit brachte. Weil er diese Sendung in sich fühlte, nannte er sich der "Prophet der Deutschen".
Der Luther auf dem Titel ihres Buches trägt ein Ausrufezeichen. Ein Fazit ihrer Studien?
Köhler: Das Ausrufezeichen ist die Antwort auf das Fragezeichen, das heute hinter Luther gesetzt wird. Gerade in der Evangelischen Kirche in Deutschland wird diskutiert, ob man sich nicht von vielem distanzieren müsse, was er getan oder gesagt hat. Bei aller berechtigten Kritik - etwa an seinem Antisemitismus - bleibt seine welthistorische Leistung als Befreier. Bevor man den Stab über ihn bricht, sollte man ihn erst einmal kennenlernen. Es lohnt sich!