Herr Weber, in Rio haben Sie das sechste Mal die olympischen Spiele als Pfarrer begleitet, es waren Ihre dritten Sommerspiele. Was war für Sie das Besondere an Rio?
Thomas Weber: Rio ist natürlich eine Stadt der Gegensätze. Auf der einen Seite sieht man neu entstehende Luxuswohnungen, auch in dem Stadtteil wo sich der olympische Park und das Athletendorf befinden – auf der anderen Seite stehen die Favelas. Es gibt aber auch eine breite brasilianische Mittelschicht. Die Brasilianer haben eine ganz andere Mentalität als Europäer. Die Organisation läuft oft nicht so rund. Einige aus der deutschen Mannschaft fanden das anstrengend: Ständig neue Dinge ansprechen zu müssen, und es klappt und funktioniert nicht. Viele der Sportarten sind unbekannt in Brasilien. Aber immer, wenn Brasilianer am Start waren, herrschte große Euphorie – die übrigens auch durch die Radioreporter richtig angestachelt wurde. Zum ersten Mal waren die olympischen Spiele in einem südamerikanischen Land – schon das ist etwas Besonderes.
Haben Sie sich auch außerhalb der Sportstätten ein Bild machen können?
Weber: Ich habe ein soziales Projekt besucht, das Kinder in einer Favela betreut und vom katholischen Hilfswerk Adveniat gefördert wird. Die Kinder dort haben noch nie den Strand gesehen, sagte man mir. Obwohl sie Luftlinie nur 30 Kilometer entfernt wohnen. Eine Eintrittskarte zu den Spielen kostete umgerechnet 15 Euro. Für unsere Verhältnisse ist das fast nichts, für die meisten Brasilianer sind diese Eintrittskarten dennoch unerschwinglich.
Sie haben Ihre Rolle in der deutschen Delegation als die einer Feuerwehr bezeichnet, die man hoffentlich nicht braucht. Nun gab es während der Spiele ein besonders trauriges und dramatisches Ereignis, den Tod des deutschen Kanu-Trainers Stefan Henze. Wie ist man damit umgegangen. Waren Sie da als Pfarrer, als Seelsorger gefragt?
Weber: Wir, mein katholischer Kollege Rolf Faymonville und ich, waren zuvor noch an der Strecke und haben uns den Kanu-Slalom-Wettbewerb angeguckt. Anschließend saßen wir im deutschen Haus zusammen und haben uns von den Trainern verabschiedet, die am nächsten Morgen zurückfliegen wollten. In der Nacht passierte dann der Unfall. Wir haben an dem Wochenende danach, als Stefan Henze noch lebte, Gottesdienste im Athletendorf und im deutschen Haus gehabt. Wir haben Fürbitten gesprochen, an Stefan Henze seine Familie und Teamkollegen gedacht. Nach seinem Tod gab es dann eine sehr würdige Gedenkfeier. Bestimmt 200 Mitglieder der deutschen Mannschaft waren da. Da habe ich gemerkt, wie sie durch dieses Ereignis zusammengewachsen ist.
Wenn so etwas geschieht, bleibt auch bei Olympia für einen Moment die Zeit stehen. Es gab ja schon Todesfälle während der olympischen Spiele – aber eben noch nie in der deutschen Mannschaft. Viele waren wirklich betroffen, das war in den Gesprächen deutlich zu merken. Aber die Zeit geht natürlich weiter, weitere Wettbewerbe stehen an. Dann ist man sehr schnell wieder im alltäglichen Rummel – so ist es ja auch sonst im Leben.
Sie waren ja Ansprechpartner für Athleten und alle anderen Mitglieder der deutschen Mannschaft. Was sind die Themen, die Sie besprechen?
Weber: Während der laufenden Wettkämpfe sind die Sportler natürlich darauf fokussiert, haben ihr Umfeld, ihre psychologische Betreuung. Danach ergibt sich so manches gute Gespräch über Gott und die Welt. Viele schätzen es, dass sie mit uns Seelsorgern ganz offen sprechen können – weil sie wissen, wir sind verschwiegen. Ganz oft geht es um Familiäres. Schöne Augenblicke, etwa die Geburt eines Kindes. Manche sagen: "Ich hab zwar mit christlichem Glauben nicht viel am Hut – aber jetzt halte ich plötzlich mein Kind im Arm, ein kleines zerbrechliches Wesen, und merke: Dafür bin ich verantwortlich. Das eröffnet mir eine ganz neue Lebensperspektive."
Viele der Athleten sind das ganze Jahr unterwegs für den Sport. Da ist es unheimlich schwierig, ein "normales" Familienleben zu führen. Das führt zu manchen Krisen, die die jungen Menschen sehr belasten. Zu denken: Wie läuft es zuhause, was erwartet mich dort und wie gebe ich mich dann meiner Familie gegenüber? Das sind wirklich existenzielle Fragen. Da bekommen eben ganz andere Dinge Wichtigkeit als nur die sportlichen Leistungen – die natürlich zu Recht im Mittelpunkt stehen! Von den mehr als 700 Personen, die zur deutschen Olympiamannschaft gehören, sind ja ganz viele eher im Hintergrund tätig: Trainer, Betreuer, Verbandsfunktionäre, Angehörige – mit denen führe ich natürlich auch viele interessante Gespräche. Die Mannschaft ist eine Gemeinde auf Zeit.
Die Athleten stehen ja im Licht der Medien. In Deutschland gab es eine Debatte über das Verhalten des Diskuswerfers und Goldmedaillengewinners Christoph Harting bei der Siegerehrung. Das wurde teilweise scharf kritisiert. War das auch ein Thema innerhalb der Olympiamannschaft?
Weber: Davon hab ich nicht viel mitbekommen. Ich wundere mich manchmal, wenn ich Berichte aus den deutschen Medien lese und frage mich: Worüber wird denn da eigentlich berichtet? Wir Seelsorger haben Christoph Harting als neugierigen und interessierten Gesprächspartner kennengelernt. Und auch bei der Gedenkfeier für Stefan Henze war er voll dabei, sichtlich betroffen. Es gibt eben auch andere Seiten, die die Fernsehbilder nicht zeigen.
Hier bei Olympia laufen den ganzen Tag die Kameras, überall sind Mikrofone, ständig kommen Anrufe, Interview-Anfragen. Das ist für die jungen Sportler nicht einfach. Die fühlen sich manchmal auch ungerecht behandelt – wenn es etwa heißt, da ist einer "nur“ Fünfter geworden. Das ist ziemlich erbarmungslos, denn ganz oft machen die Athleten ihr Selbstwertgefühl an den Platzierungen fest. Und wenn jemand seine Leistung nicht bringen kann, fühlt er sich ziemlich wertlos. Er sieht, dass allen anderen auf die Schulter geklopft wird – die Medaillengewinner werden abends im deutschen Haus gefeiert, und man selbst steht daneben. Den Druck machen sich die Athleten einerseits selbst, Druck kommt aber auch von Seiten der Öffentlichkeit.
Welchen Einfluss hatten die Skandale um gedopte Sportler auf die Spiele?
Weber: Aus meiner Sicht steht die Glaubwürdigkeit des Sports auf dem Spiel. Viele Gemeindeglieder sagten mir: Früher haben wir den ganzen Tag Olympia geguckt, aber unser Interesse hat stark nachgelassen, wegen der Doping-Problematik. Bei deutschen Funktionären erlebe ich eine Null-Toleranz-Einstellung. Die sagen, das Thema muss in die Öffentlichkeit, wir müssen alles daransetzen, Dopingsünder zu entlarven. Jeder hat Interesse, dass das Thema nicht länger unter den Tisch gekehrt wird. Was Russland betrifft, so sind die Verantwortlichen der unterschiedlichen Sportarten ganz verschiedener Meinung. Einige sagen, man hätte die ganze Mannschaft ausschließen müssen, andere sagen: Nein, es gibt auch Athleten die nicht gedopt haben. Wieso soll man die bestrafen? Ich bin da kein Fachmann. Aber das Thema beschäftigt alle, weil es tatsächlich um den Sport als solchen geht.
Nach den Spielen ist vor den Spielen – gibt es etwas, das Sie den Sportlern mit auf den Weg geben wollen?
Weber: Tatsächlich kann ich allen Sportlern nur raten, früh genug ein zweites Standbein zu entwickeln. Denn sportlicher Erfolg und Ruhm ist sehr vergänglich, die Karriere als Leistungssportler irgendwann vorbei. Ich freue mich, Athleten zu treffen, die mir sagen: "Ich studiere" oder: "Ich habe eine Ausbildung gemacht, ich habe eine Perspektive". Das finde ich total wichtig. Ich sage ihnen: Du bist im Moment bereit, viel für deinen Sport einzusetzen. Aber du musst auch wissen, dass es etwas anderes gibt. Ob jemand gewinnt oder verliert – unser Wert als Mensch hängt nicht davon ab. Wir haben eine Würde, die uns Gott schenkt, als Geschöpfe. Den Trainern und Funktionären sage ich: Denkt daran, das sind junge Leute, die euch anvertraut sind für einige Jahre. Benutzt sie nicht als potenzielle Medaillengewinner, sondern fördert auch ihre Persönlichkeiten. Dafür seid ihr verantwortlich. Das ist ein pädagogischer Anspruch, den der Sport auch hat.