Über diese Brücke soll Luther über die Lahn gekommen sein, mit seinem ganzen Tross. In der Ferne lässt sich zwischen zwei Bergwipfeln noch die Schneise erahnen, damals der einzige Weg von Osten nach Marburg. Es war der 30. September 1529. Ein wichtiger Termin stand an: Der Reformator sollte seinen Kontrahenten Ulrich (Huldrych) Zwingli treffen, auf dringenden Wunsch des hessischen Landgrafen Philipp. "Man weiß: Luther ist aus seiner Kutsche ausgestiegen", erzählt Christoph Becker: "Die Marburger haben sich die Augen ausgeguckt. Denn Luther war der bekannteste Mann Europas."
"Hier wohnte Luther für vier Stunden"
Luther ging an diesem Septembertag 1529 den steilen Weg hinauf in die Stadt, über den Marktplatz, zu einem Eckhaus, an dem heute ein Schild hängt: "Hier wohnte Dr. Martin Luther 1529." Becker lacht. "Man könnte drunter schreiben: für vier Stunden." Denn der Reformator zog sich in dem Gasthaus nur um und eilte weiter, hoch ins Schloss, wo ihn der Landgraf erwartete. Und sein Kontrahent Zwingli.
Bis zum 4. Oktober 1529 blieben die Reformatoren auf dem Schloss. Versammelt war die theologische Elite der Zeit: Luther, der mit Philipp Melanchthon aus Wittenberg angereist war, Zwingli aus Zürich und Martin Bucer aus Straßburg, Justus Jonas aus Sachsen, weitere Theologen, weltliche Ratsherren und Militärs.
Luther und Zwingli trennte ein heftiger Streit um die Auslegung des Abendmahls: Für Luther war Christus real gegenwärtig in Brot und Wein, für Zwingli bedeuteten Brot und Wein symbolisch den Leib und das Blut Christi. "Luther wollte gar nicht nach Marburg kommen", sagt Historiker Becker. "Er fürchtete, dass er verlieren konnte." Aber Landgraf Philipp, eine politische Kraft hinter der Reformation, bestand auf dem Treffen. "Philipp war durch und durch Machtmensch", sagt Becker. "Er war der zweite Landesfürst, der in seinem Land die Reformation eingeführt hat." Und er hatte 1527 die erste protestantische Universität der Welt gegründet.
Auf dem Schloss ging es sehr laut zu. Die Kontrahenten wohnten teilweise im selben Zimmer. Die Diskussionen in der Fürstenwohnung wurden auf Deutsch und auf Latein geführt, es gab eine Redeordnung, Treffen unter vier Augen, ein Abschlussgespräch.
Philipp zwang die Reformatoren, sich in so vielen Punkten wie möglich zu einigen. Doch eine Einigung scheiterte am Ego Luthers. "Er hat auf stur gestellt", sagt Becker. Es gab zwar eine Abschlusserklärung mit 15 Artikeln, doch in der entscheidenden Abendmahlsfrage blieben die Differenzen.
Zeitreise mit Stinkstation
Stiegen führen hoch zum Schloss, Fachwerkhäuschen schmiegen sich an den Berg. Auf dem Marktplatz sitzen Touristen beim Kaffee in der Sonne, sie sprechen deutsch, englisch, holländisch. 1529 lebten nur 3.500 Menschen in der Stadt. In den Hinterhöfen waren die Schweineställe, Fäkalien wurden über die Gosse entsorgt oder den Schweinen verfüttert. "Hier wollen wir eine 'Stinkstation' aufbauen", sagt Becker und deutet auf eine dunkle Ecke hinter der Lutherischen Pfarrkirche. Der Plan für das Marburger Jahr zum Reformationsjubiläum steht. "Wir wollen das 16. Jahrhundert lebendig werden lassen", erklärt Kulturamtsleiter Richard Laufner.
Am Fronleichnams-Wochenende im Juni 2017 ist eine Zeitreise geplant. In der "Stinkstation" soll es so riechen wie damals. Ein Schauspieler trägt Tischreden Luthers vor, es gibt eine Armenspeisung, ein Pfarrer braut Bier. Das ganze Jahr über sind in Zusammenarbeit mit Universität und Kirchen Ausstellungen, Tagungen und ein Lutherstück im Landestheater vorgesehen.
Luther reiste am 5. Oktober aus Marburg ab. Das - im Grunde ergebnislose - Religionsgespräch ist noch heute bekannt. "Es hat was Folkloristisches", findet Becker. Religionsgeschichtlich war es ein entscheidender Schritt zur Trennung zwischen lutherischen und reformierten Protestanten.