Wie ist die aktuelle Lage im Süd-Sudan?
Marina Peter: Es ist im Moment so, dass es in der Hauptstadt Juba keine offenen Kämpfe mehr gibt. Aber es gibt noch Kämpfe im Grenzgebiet zum Sudan, im Grenzgebiet zu Uganda, und im Upper Nile im Nordosten. Der Waffenstillstand von Juli wird nicht eingehalten. Der Vizepräsident Riek Machar zeigt sich nicht öffentlich; daraufhin hat der Präsident Salva Kiir in Missachtung des Friedensabkommens einen neuen Vizepräsident eingesetzt und hat die Minister ausgetauscht, von denen er annahm, dass sie loyal zum Ex-Vizepräsidenten Riek Machar waren. Viele Südsudanesen sagen, das verstößt gegen das Friedensabkommen. So sieht es auch die UN.
An den Grenzen vor allem in Richtung Uganda werden junge Männer festgehalten, sie dürfen das Land nicht verlassen. Frauen und Kinder werden noch durchgelassen. Aber es wird auf breiter Front rekrutiert. Die UN hat einen neuen Bericht herausgegeben, der sich mit unseren Informationen deckt: Es hat wieder viele Kriegsverbrechen gegeben, auch besonders viele Vergewaltigungen. Tausende von Flüchtlingen gehen wieder in den Nordsudan nach Darfur oder fliehen nach Uganda und Kenia. Der Südsudan steht kurz vor einer Hungersnot.
Die meisten internationalen Helfer wurden evakuiert, als die Kämpfe in der Hauptstadt ausgebrochen sind. Viele Südsudanesen hatten sich allerdings auf Kirchengelände in Juba geflüchtet, die können dort wieder versorgt werden. Das World Food Program hat aber wieder angefangen mit so genannten "Food Drops" aus der Luft, weil die Menschen außerhalb der Hauptstadt an einigen Stellen nicht mehr anders versorgt werden können. Nach der Unabhängigkeit ist es im Südsudan nicht gelungen, eine landwirtschaftliche Selbstversorgung aufzubauen, obwohl besonders die Region Equatoria im Süden eigentlich sehr fruchtbar ist. Die Vereinten Nationen schätzen, dass zwei Drittel der Bevölkerung von Hunger bedroht sind. Sie rechnen selbst in Equatoria mit Ernteausfällen.
Wer kämpft gegen wen?
Peter: Oberflächlich sieht es immer so aus wie ein Machtkampf zwischen dem Präsidenten Salva Kiir und dem jetzt abgesetzten Vizepräsidenten Riek Machar. Unter anderem hatte Machar im Dezember 2013 nach dem ersten Gewaltausbruch eine "SPLM in Opposition" gegründet, eine Abspaltung der Regierungspartei. Das Ganze hat aber leider sehr schnell eine ethnische Komponente bekommen, die der Konflikt früher so nicht hatte. Viele Menschen vor Ort haben das Gefühl, dass die Dinka, die ethnische Gruppe, zu der Präsident Kiir gehört, alles beherrschen. Die entscheidenden Regierungsämter, und hochrangige Posten bei Sicherheitskräften und Militär sind von Dinka oder loyalen Anhängern von Präsident Kiir besetzt.
Die Eliten im Südsudan sind furchtbar korrupt, der Wirtschaft geht es nach der Unabhängigkeit schlechter, und die Sicherheitsmaßnahmen durch den Staat wurden drastischer. Entwicklungshilfe kommt nur an, wenn man direkt mit den Partnern vor Ort zusammenarbeitet, wie Brot für die Welt das macht. Staatliche Hilfen kommen nicht bei den Menschen an, für die sie eigentlich gedacht sind.
Vizepräsident Riek Machar gehört zu den Nuer. Juba, die Hauptstadt Südsudans, liegt in der Region Equatoria, deren Einwohner mehrheitlich auch keine Dinka sind. Die Equatorianer haben auch das Gefühl, dass sie von den Dinka unterdrückt werden. Im Moment sieht es so aus, als entwickele sich der Bürgerkrieg in diese Richtung: Alle gegen Dinka und Dinka gegen alle.
Die Regierung hat die bessere Ausrüstung durch das Militär, die Dinka sind aber in der Minderheit verglichen mit allen anderen Bevölkerungsgruppen. Die Unzufriedenheit und das gegenseitige Misstrauen nehmen zu, so dass die Situation jetzt viel schwieriger ist als vorher: Niemand traut mehr irgendjemandem. Wenn sich tatsächlich alle anderen Gruppen gegen die Dinka-Regierung stellen, gibt das ein Blutbad, wie es selbst im Südsudan noch keiner gesehen hat.
Lässt sich ein solcher Bürgerkrieg noch verhindern?
Peter: Die Afrikanische Union ist sehr daran interessiert, den Konflikt beizulegen. UN-Schutztruppen sind zwar schon da, aber die Mission ist begrenzt (Unmiss). Die Soldaten und Polizisten können höchstens ihre eigenen Lager sichern. Und: Die Regierung des Südsudan will keine weitere Schutztruppe. Wir haben im Südsudan eine Elite, die durchmilitarisiert ist, und die die Sicherheitskräfte für ihre eigene Sicherheit statt für die Sicherheit des Staates einsetzen. Diese Mentalität gilt auf beiden Seiten. Die Anführer der Fraktionen kennen sich alle aus dem Bürgerkrieg mit dem Sudan und bringen ihre eigenen Traumata mit. In der Art von Rationalität, die der Westen gerne hätte, können sie nicht handeln. 80 Prozent der Südsudanesen sind Analphabeten. Sie haben keine Chance auf Arbeit oder Bildung und sind sehr leicht für den Konflikt zu mobilisieren. Unsere Befürchtung ist, dass der Bürgerkrieg dazu genutzt wird, alte persönliche Rechnungen zu begleichen und Südsudan danach von vielen kleinen Warlords regiert wird.
Das wäre selbstverständlich auch für die wirtschaftliche Entwicklung schlecht. Südsudan steht kurz vor einem Staatsbankrott. Die Öl-Verträge mit China können zum Beispiel nicht mehr erfüllt werden, weil die Kämpfe auch diese Arbeit behindern. Bei den Auseinandersetzungen im Juli wurden zwei chinesische UN Blauhelme getötet und vier weitere verletzt. Es könnte sein, dass China erstmals im UN-Sicherheitsrat geplante Sanktionen gegen Südsudan nicht verhindern wird.
"Wir wünschen uns schnelle Lösungen - aber die gibt es nicht"
Haben Sie gar keine Hoffnung auf Frieden?
Peter: Auf einen Warlord kommen mindestens tausend friedliebende Menschen, die einfach leben wollen. Eine kurzfristige Lösung wird es nicht geben, aber mittelfristig könnten sich diese Menschen durchsetzen. Intiativen wie "Reconcile" und die Kirchen, die viel ausgebildet haben in Trauma-Bewältigung, können helfen. Das Friedensabkommen im August 2015 ist nur widerwillig unterzeichnet worden. Danach hatten die Kirchen schon einen Prozess begonnen, um Friedensaufbau von unten auf lokaler Ebene hinzukriegen. Das ist aber sehr aufwändig und braucht viel Zeit.
Wir haben weltweit Fragen von Identität: Wer sind wir, wer wollen wir sein, wer gehört dazu? Die Südsudanesen hatten bis zur Unabhängigkeit nur das eine Ziel: Ein eigener Staat zu sein. Sie haben aber keine Antwort darauf gehabt, wer sie danach sein wollen. An einer neuen, positiven Vision, wie das Miteinander im Vielvölkerstaat Südsudan gestaltet werden kann, hat nach der Unabhängigkeit niemand ernsthaft gearbeitet.
Lässt sich der Konflikt vor Ort überhaupt lösen oder müssen wir damit rechnen, dass sich diese Situation alle fünf bis zehn Jahre wiederholt?
Peter: Wenn nicht ein Wunder passiert, wird die Lage im Südsudan jetzt weiter eskalieren. Ich höre von vielen Stimmen im Südsudan: Wir kämpfen das jetzt aus. Aber selbst wenn die aktuelle Regierung ausgetauscht würde, ist das keine Garantie, dass die Fraktionen im Südsudan sich dann friedlich einigen können. Weil es so viel menschliches Leid in solchen Konflikten gibt, wünschen wir uns schnelle Lösungen - aber die gibt es nicht. Vielleicht wird es irgendwann Frieden geben, aber das ist ein langwieriger Prozess. Man braucht auch die Diplomatie von außen, aber ein solcher Konflikt muss sich von innen lösen.
Während des Krieges gegen den Sudan in den 1990ern gab es mehr Tote durch Bruderkämpfe innerhalb des Südsudan als Tote im Kampf mit dem Norden. Dann hat die Kirche 1998 einen "people to people"-Prozess gestartet, um den Menschen, die kriegsmüde waren, eine Perspektive zu geben. Die Frauen haben angedroht, nicht mehr mit ihren Männern zu schlafen, weil sie keine Kinder mehr für diesen Krieg gebären wollten. Die Offiziere in der Armee haben sich geweigert, weiterzukämpfen. Auch jetzt wieder haben die Kirchen einen Perspektivhorizont von zehn oder zwanzig Jahren für Versöhnung vor Ort. Dazu brauchen sie Unterstützung - aber eine Lösung kann nur von innen kommen.
Eine Möglichkeit, für die Menschen im Südsudan zu spenden, finden Sie hier bei der Diakonie Katastrophenhilfe.