Die Tour de France habe ich früher wie ein Süchtiger verfolgt. Zunächst im Radio, später im Fernsehen. Vor allem die Königsetappen in den Bergen ließen mich von Zwischenzeit zu Zwischenzeit bangen oder hoffen – je nachdem, in welcher Position meine Favoriten gerade unterwegs waren, ob als "Gejagte" oder "Verfolger". Vor allem die Fahrt auf den Mont Ventoux hatte es mir angetan, obwohl ich wusste, dass dort 1967 der Brite Tom Simpson tot von seinem Rad gefallen war. Er hatte gedopt. Alkohol und Aufputschmittel sorgten in seinem Körper für eine Dehydratation, einen nicht mehr behebbaren Wassermangel.
Zwei Wochen vor den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro sollen nun zahlreiche, möglicherweise alle russischen Sportler wegen systematischem, staatlich organisiertem Doping von den Wettkämpfen ausgeschlossen werden. Ein Sieg des "sauberen" Spitzensports?
Seit mir bewusst wurde, dass gerade im professionellen Radsport die großen Helden wie Jan Ullrich oder Lance Armstrong nichts anderes waren, als in Pedale tretende Medizinschränke, erlahmte mein Interesse an den Rennen völlig. Mein Fazit: Es siegen ja sowieso nicht jene, die am besten trainiert sind, das beste Team oder die beste Taktik haben, sondern die genialsten pharmazeutisch-medizinischen Trickbetrüger.
Nun bin ich ein liberaler Mensch, der mit der allgemeinen Verbotskultur wenig im Sinn hat. Ich erinnere mich daran, dass das Verbot von Alkohol in den USA (1919-1933), die sogenannte "Prohibition" weder Gesundheit, noch Anstand gefördert hat, sondern alleine die Mafia, die Könige des Schwarzmarktes. Ähnliches gilt für das Verbot von eher wenig gefährlichen Rauschdrogen wie Haschisch und Marihuana. Die Dealer freuen sich und können den Kunden noch "viel bessere" Drogen empfehlen wie LSD oder Heroin, die teurer sind und "so richtig süchtig" machen.
Der Traum vom "sauberen Sport"
Außerdem kenne ich aus dem alltäglichen Leben in der bundesdeutschen Gesellschaft mannigfaltige Beispiele von akzeptiertem, ja gutgeheißenem Doping. Menschen, die in anstrengenden Berufen oder Lebenswelten agieren, nutzen Kaffee, beruhigende oder aufputschende Medikamente, um sich in Bestform zu bringen. Viele von ihnen bekommen die Pillen und Säfte von ihren Ärzten verschrieben und per Rezept von der Krankenversicherung bezahlt. Aber vielleicht ist es diese keineswegs drogenfreie Lebenswirklichkeit, die dem Traum vom "sauberen Sport" überleben hilft. Die Sehnsucht nach wenigstens einem Teil menschlicher Konkurrenz, in dem nur die angeborenen Gaben wirken dürfen, nicht die eingenommenen.
Man sollte sich von irrealen Träumen lösen, nicht Sportlerinnen und Sportler unter ihnen leiden lassen. Anstelle absoluter Verbote und der implizierten Aufforderung, trickreich und innovativ zu sein (also neue – noch nicht verbotene - Substanzen zu finden), könnte man auch die totale Freigabe beschließen. Jeder darf dopen. Und dann werden die Wettkämpfe in unterschiedlichen Klassen gewertet. Freiwillig getestete Olympiasieger im "naturnahen" Wettbewerb, ohne Hilfe aus Labor und Apotheke, und Goldmedaillengewinner in der Pharma-Kategorie, bei Radrennen als "rasende Medizinschränke".
Komplizierte Welt! Zu kompliziert. Ich muss jetzt aufhören, darüber nachzudenken. Und den Espresso neben dem Notebook lasse ich stehen. Ich steige jetzt in meinen Weinkeller. Da lagert ein wunderbarer Spätburgunder. Der wird mich entspannen.