"Welcome to hell – willkommen in der Hölle!" stand auf dem Transparent, mit dem Dutzende Polizisten und Feuerwehrleute am Flughafen von Rio de Janeiro die Anreisenden begrüßten. Der Protest richtete sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen und verspätete Lohnzahlungen. Mitte Juni erklärte die Olympiastadt den finanziellen Notstand und bat die Bundesregierung um eine Finanzspitze. Fast 800 Millionen Euro fehlten, um die letzten Verkehrsprojekte fertig zu bauen und die Gehälter im öffentlichen Dienst zu bezahlen, bevor am fünften August das Sportspektakel steigt.
Die Stimmung in der Stadt am Zuckerhut ist bestenfalls gedämpft. "Das Leben in Rio ist nicht sicher, weil die Sicherheitskräfte nicht mehr bezahlt werden", warnen die Protestler am Flughafen. Die Kriminalität hat zugenommen, fast jeden Tag gibt es Berichte über spektakuläre Überfälle auf Passanten oder Autofahrer, immer wieder auch mit Todesopfern. Sogar Sportler bei der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele hat es bereits getroffen, und zuletzt auch das deutsche Fernsehen: Zwei Schiffscontainer mit Übertragungstechnik im Wert von 400.000 Euro verschwanden Anfang Juli spurlos im Straßengewirr des Hafenviertels. Wenig später tauchten die Container aber ebenso überraschend wieder unversehrt auf.
"Nein, viel olympische Stimmung ist bisher nicht zu spüren", sagt der Sportlehrer Felipe Martins da Silva. Er findet dies schade, kann es aber verstehen. Es gibt viele Gründe, derzeit unzufrieden und mit den Gedanken woanders zu sein. "Viele sind arbeitslos geworden, denn seit vielen Monaten steckt Brasilien in einer schweren Wirtschaftskrise", zählt Martins da Silva auf. Zehntausende, die bei den Olympia-Bauten beschäftigt waren, werden demnächst ebenfalls nach einem neuen Job suchen. "Andere sind von den jahrelangen Bauarbeiten genervt, oder mussten sogar wegen des Baus von Sportanlagen oder neuer Verkehrswege ihre Wohnung verlassen. Den Leidtragenden dieser Spiele ist natürlich gar nicht nach Feiern zumute", weiß der 34-jährige.
Der frühere Leistungssportler Martins da Silva sieht den Olympiabetrieb mit gemischten Gefühlen. "Mehrere Trainingsstätten, zum Beispiel am legendären Maracanã-Stadion, wurden einfach geschlossen. Dem Breitensport und der Förderung von Talenten wird bei uns viel zu wenig Bedeutung beigemessen", beklagt er. Als Jugendlicher war Martins da Silva Brasilienmeister über 110 und 400 Meter Hürden und stand auch bei südamerikanischen Meisterschaften auf dem Podium. Doch schon bald musste er Geld verdienen und den aktiven Sport an den Hagel hängen. Trotzdem wird er im August mitfiebern: "Für die Olympische Leichtathletik habe ich schon mehrere Eintrittskarten gekauft, für die ganze Familie!"
Auch politisch herrscht in Brasilien große Unruhe. Die Präsidentin Dilma Rousseff ist seit Mai von ihrem Amt suspendiert. Nun prüft der Senat den Vorwurf, sie habe mit finanziellen Tricks den Haushalt geschönt. Zu ihrer Wiederwahl im Oktober 2014 soll sie auf diese Weise die Finanzkrise in Staat vertuscht haben. Kürzlich wurde beschlossen, dass die endgültige Senatsabstimmung über das Schicksal der ersten Frau im höchsten Staatsamt Brasiliens erst nach Ende der Olympischen Spiele und kurz vor Beginn der Paralympics stattfinden soll.
Bis dahin, und vielleicht noch bis Ende 2018, führt Rousseffs bisheriger Vizepräsident Michel Temer eine Interimsregierung. Rousseff und ihre Anhänger bezeichnen ihn als Verräter und das ganze Amtsenthebungsverfahren als Staatsstreich. Sie habe sich nichts zu Schulden kommen lassen, argumentiert Rouusseff, und nennt den Vorwurf von Haushaltstricks einen Vorwand: In Wirklichkeit hätten Temer und seine Parteifreunde den Putsch angezettelt, um die Ermittlungen im Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras zu unterlaufen. Dies geht auch aus mehreren Gesprächsmitschnitten und Aussagen von Kronzeugen hervor und widerspricht der monatelangen Medienkampagne, die vor allem Rousseff und ihren einst sehr populären Vorgänger Lula da Silva als Hauptakteure des Korruptionsskandals darstellte. Mehrere Minister von Temers rechtskonservativem Kabinett, in dem nicht eine Frau und nicht ein Schwarzer sitzen, mussten bereits wegen Korruptionsverwicklungen zurücktreten. Gegen vier weitere Minister ermittelt der Oberste Gerichtshof.
"Das Recht auf eine lebenswerte Stadt spielt keine Rolle"
Die Olympischen Spiele, die Lula einst nach Brasilien holte und ein großes Prestigeprojekt von Rousseff werden sollten, werden jetzt von Michel Temer eröffnet werden. Sein Parteifreund und Bürgermeister von Rio, Eduardo Paes, verspricht "perfekt organisierte Spiele und ein großes Fest". Noch ist unklar, ob die U-Bahn-Linie vom Zentrum ins Olympiaviertel Barra rechtzeitig fertig wird. Aber alle Sportarenen sind fertig und werden bereits von den über 80.000 Polizisten und Soldaten bewacht, die bis Ende August im Einsatz sein werden. Im Zentrum gibt es eine neue Straßenbahn, neue Fußgängerzonen im Hafenviertel und überall dort, wo Besucher erwartet werden, wurde das Stadtbild mit neuem Asphalt oder neu gepflanzten Bäumen aufgehübscht.
Für Beatriz Fonseca vom olympiakritischen "Comitê Popular” ist dies alles nur Augenwischerei, um über die vielen Menschenrechtsverletzungen im Zuge von Olympia hinwegzutäuschen. Die AktivistInnen, die schon während der Fußball-WM 2014 landesweit Proteste durchführten, werden in den ersten Augusttagen unter dem Motto "Spiele der Exklusion – Jogos da exclusão" Aktionstage organisieren. "Das Recht auf eine lebenswerte Stadt spielt bei dem Ganzen überhaupt keine Rolle", kritisiert Fonseca. "Die neuen Verkehrsprojekte dienen dem Sportspektakel, aber nicht den Bedürfnissen derjenigen, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind. Straßenbewohner und ambulante Händler werden vertrieben, ein Olympia-Sondergesetz verbietet sogar Demonstrationen und das Benutzen von olympischen Symbolen. Die ganze Stadt wird plötzlich privatisiert, aber nicht wir, sondern nur einige Konzerne und das korrupte IOC wird davon profitieren!"
Die Studentin lässt Dampf ab. Sie hofft, dass es während der Spiele ganz viele Protestaktionen geben wird. Auch mehrere Gewerkschaften haben angekündigt, die internationale Aufmerksamkeit zu nutzen, um auf Missstände beispielsweise im Bildungsbereich hinzuweisen. Nur mit der protestierenden Polizei will Beatriz Fonseca nichts zu tun haben: "Wie immer vor Megaevents nimmt die Polizeigewalt auf schreckliche Weise zu. Statt für Sicherheit zu sorgen, schießen die Polizisten auf Menschen, insbesondere in den Armenvierteln. Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres erschossen Polizisten im Staat Rio de Janeiro über 320 Menschen – meist schwarze, dunkelhäutige Männer", erklärt die Aktivisten und sagt der Stadt noch unruhigere Zeiten voraus.