Martin Luther King und seine Leute hatten im Januar 1966 den ehrgeizigen Plan, die im Süden bewährte gewaltfreie Aktion in die Slums der Großstädte im Norden zu tragen. Dort waren die Probleme der Schwarzen nicht eine kleinliche Rassentrennung im Bus und an der Imbissbude, sondern die Hoffnungslosigkeit von Familien und einer ganzen Generation Jugendlicher unter wirtschaftlicher Benachteiligung im Getto.
Im Januar 1966 hatte Martin Luther King mit seiner Familie im Schwarzengetto auf Chicagos West Side eine heruntergekommene Wohnung bezogen. "Man kann den Armen nur nahe sein, wenn man bei ihnen lebt", erklärte er den Reportern, die ihm und seiner Frau Coretta die schmale, wacklige Treppe zu der nach Urin stinkenden Unterkunft nachkletterten. "Der langsame, erstickende Tod einer Art Konzentrationslagerlebens im Getto" war Martin Luther Kings Terminus für die Slums. Gemeinsam mit anderen besetzte er ein ganzes Mietshaus, welches sie selbst renovierten. Sie nannten das "umgekehrter Streik". In der Kirche sagte King nach erschütternden Selbstzeugnissen von Gettobewohnern: "In einem Slum zu leben, ist Raub. Ihr seid eurer Würde beraubt. Es ist ein Unrecht, mit Ratten zu leben." Dabei hatte Chicago damals eines der höchsten Prokopfeinkommen der Welt und eine der niedrigsten Arbeitslosenraten der USA.
Ein Team aus dem Süden angereister und einheimischer Bürgerrechtler bereitete gewaltfreie Aktionen, Verhandlungen mit dem Establishment und Demonstrationen durch Weißenviertel vor.
Bürgermeister Richard J. Daley versuchte mit Slumsanierungsmaßnahmen die Proteste der Bürgerrechtler zu entkräften. Doch die städtischen Armutsbekämpfungsprogramme wie auch ein von Präsident Lyndon B. Johnson vorgestelltes Modellstädteprogramm, das verfallende Städte in "Meisterstücke der Zivilisation" verwandeln sollte, hatten eher kosmetischen Charakter.
48 Thesen an der Rathaustür
Die Verhandlungen der Bürgerrechtler mit Bürgermeister Daley verliefen zäh. Bei ihren Protestmärschen durch Wohnviertel von Weißen stießen sie auf hasserfüllte Reaktionen. Die Kinder von Coretta und Martin quengelten in der stickigen Wohnung. Auf der verstopften und gefährlichen Straße gab es keine Spielmöglichkeit.
Im Verlauf der Bürgerrechtsaktivitäten kam Martin Luther King die Idee, die symbolhafte Aktion seines Namenspatrons Martin Luther, dessen Thesenanschlag zu Wittenberg aus dem Jahr 1517, in Chicago nachzuahmen. Er wählte dafür den traditionellen "Freiheitssonntag", den 10. Juli 1966. Im Football- und Fußballstadion "Soldiers Field" hielt er vor 36.000 Zuhörern eine progammatische Rede. Dann führte er die Menge zum Rathaus. Unter Jubel heftete er 48 Thesen an die Metalltür.
Hatte Martin Luther 1517 in Wittenberg in seinen 95 Thesen den geschäftsmäßigen Ablasshandel der Kirche angeprangert, so prangerte King 1966 in Chicago vorrangig die Geschäftemacherei mit Unterprivilegierten im Schwarzengetto der Großstadt an. Seine 48 Thesen richteten sich sowohl an Stadtverwaltung, Gewerkschaften, Wirtschaft und Banken, als auch an den Gouverneur und die Bundesregierung, gleichwohl jedoch an die Bevölkerung.
###mehr|terms|13010###
King mahnte Verbesserungen der Wohn- Bildungs- und Arbeitsverhältnisse an. Er forderte öffentlichen Wohnungsbau, Kindergärten, eine funktionierende Müllabfuhr, Straßenreinigung und einen Gebäudekontrolldienst für die von Vermietern vernachlässigten Wohnungen im Getto und öffentliche Toiletten. Er verlangte Ausbildungsplätze und Beschäftigungsmöglichkeiten für Schwarze und Latinos nicht nur auf unterster Ebene sowie einen Mindestlohn in Höhe von zwei Dollar. Zudem forderte er eine Beschwerdestelle für Polizeigewalt, polizeiliche Übergriffe und willkürliche Verhaftungen. Gemeinnützige Organisationen sollten aus staatlichen Mitteln mitfinanziert werden. Weiter verlangte King die Durchsetzung des Wahlrechts auf Grundlage des Bürgerrechtsgesetzes von 1964.
Die Menschen wurden zur Mitgliedschaft und finanziellen Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung sowie zur Teilnahme an den Kampagnen aufgefordert. Und King rief sie zum selektiven Einkauf bei Firmen auf, die Produkte von schwarzen Produzenten nicht in ihr Sortiment aufnahmen.
Aufruf zur Gewaltfreiheit verhallte ungehört
Als King am Folgetag Bürgermeister Daley seine Thesen persönlich übergeben wollte, weigerte sich dieser "mit vor Zorn hochrotem Gesicht", das Papier entgegenzunehmen. Chicago hätte bereits ein "massives Slumbekämpfungsprogramm". King versprach dem Bürgermeister Sit-ins, Camp-ins, Boykotts und Massendemonstrationen, wenn er nicht Grundlegendes unternähme, der in den Gettos "brodelnden Verzweiflung" entgegenzutreten.
Der störrischen Reaktion Daleys folgte schon am nächsten Tag ein Aufruhr mit neun Verletzten und 24 Verhaftungen. Kings Aufruf zur Gewaltfreiheit verhallte bei einem Teil der Schwarzen ungehört. Es folgten weitere Gewalttätigkeiten und es bestand die Gefahr, dass das ganze Getto in Flammen aufgeht. Nach dem Tod eines 14jährigen Mädchens setzte Gouverneur Otto Kerner 4.000 Mann Nationalgarde ein. Die Stadt beschaffte zehn transportable Swimmingpools für das Schwarzengetto. Doch die Lage ließ sich nicht beruhigen. Während eines Marsches am 5. August wurde Martin Luther King ein Ziegelstein an den Kopf geworfen, obwohl ein weißer Sympathisant an seiner Seite demonstrierte. "Nicht einmal in Mississippi und Alabama erlebte ich den Mob so feindselig und hasserfüllt wie in Chicago" erklärte King.
Dann gab der Bürgermeister nach. Am 26. August kam es zu einem "Gipfelabkommen", in dem ein großer Teil der Forderungen aus Martin Luther Kings 48 Thesen von der Rathaustür aufgenommen wurde, wenn auch ohne genauen Zeitplan.
Die Chicago-Kampagne wurde immer wieder durch Themenwechsel Richtung Vietnamkrieg unterbrochen. Zum anderen wurde King aufgeschreckt durch den neuen Slogan "Black Power", der einen Teil der Bewegung zunächst im Süden ergriff, auch im Norden laut wurde und nicht mehr verstummte. So musste sich der Apostel der Gewaltfreiheit mit sehr bescheidenen Ergebnissen seiner "Reformation" in Chicago begnügen: "Es ist der erste Schritt einer Reise von 1000 Meilen." Noch heute leben in Chicago West Side rund 130.000 Einwohner (je nach Stadtviertel 16 bis 40 Prozent) unterhalb der Armutsgrenze.