"Ich sollte sie auf einmal mit 'Miss Anne ansprechen." Marie Davenport-Schneiders Augen füllen sich mit Unverständnis und Wut. "Wir haben jeden Tag miteinander gespielt, auf der staubigen Straße vor unseren Häusern, Anne und ich. Und jetzt das!" Anne ist weiß, Marie nicht. Deswegen ist in ihrem Leben einiges anders gelaufen. Als sie und ihre Freundin 12 wurden, hat Marie Davenport das zum ersten Mal bewusst gespürt: Ihre Großmutter sagte ihr, dass sie nicht mehr mit Anne spielen dürfe. Schwarze müssen eine Weiße, sobald diese 12 Jahre alt ist, mit 'Miss' anreden.
Getrennt! Aber gleich?
Seitdem sind 50 Jahre vergangen. Marie Davenport ist im tiefen Süden der Vereinigten Staaten aufgewachsen. Zu einer Zeit, als über öffentlichen Toiletten die Schilder "white" und "coloured" hingen. Als die amerikanische Gesellschaft noch knöcheltief im Sklaverei-Erbe steckte. Die Sklaverei war seit 1865 offiziell abgeschafft, auch danach herrschte Rassentrennung, die erst 1954 verurteilt wurde. Es gab gesonderte Schulen, Krankenhäuser, Busse und Toiletten für Menschen mit weißer und Menschen mit dunkler Hautfarbe. "Getrennt aber gleich" nannte sich das, in der Realität waren die Einrichtungen für Schwarze in teils miserablem Zustand, In den Südstaaten wie Mississippi waberte der Rassismus besonders deutlich durch die Straßen und Häuser.
Marie Davenport träumte von einer anderen Welt. Die kleine Marie wuchs nicht mit Hass im Herzen auf. Sie mochte die Weißen, warum auch nicht? Dann wurden die weißen Kinder im Bus an ihr vorbei chauffiert, während sie selbst und all die anderen Kinder mit schwarzer Hautfarbe 11 Kilometer zur Schule liefen. "Eigentlich war es keine richtige Schule, eher ein Schuppen, wo uns die Lehrer unterrichtetet, soweit es die kargen Mittel zuließen."
In ihrer Stimme schwingt Fassungslosigkeit mit, auch ein halbes Jahrhundert später, als sie in ihrem Frankfurter Wohnzimmer sitzt und erzählt. Abfällige Bemerkungen und rassistische Beschimpfungen, ausgespuckt von kleinen Mündern, die erzogen wurden in dem Glauben, mancher Mensch sei mehr wert als andere. Davenport hat den Traum, dass Schwarze und Weiße gleichberechtigt sein werden.
Als Jugendliche dachte Davenport, sie würde diesen Traum alleine träumen. Doch dann hört sie 1955, dass sich Rosa Parks weigerte, ihren Sitzplatz im Bus zu verlassen. Ein Prediger namens Martin Luther King reiste in die Südstaaten. Er zieht Marie Davenport sofort in seinen Bann. Sie ist fasziniert von seiner Ideologie der Gewaltlosigkeit im Kampf gegen die Ungerechtigkeit. Wie Gandhi in Indien. Mandela in Südafrika. Ohne Gewalt, das Unvorstellbare erreichen. Genauso wurde auch sie erzogen.
1961 zieht Davenport in die Hauptstadt Washington. Der Norden hatte gegen die Sklaverei gekämpft. Das Leben als Schwarze ist dort einfacher, denkt sie. Die junge Frau verschlingt Bücher von und über "Dr. King", ist begeistert von seiner Spiritualität. Sie hat einen Traum. Sie will sich für die Jobs bewerben, die sie will und nur abgelehnt werden, weil sie nicht qualifiziert genug ist. Aber sie will keine Absage erhalten, bloß weil sie schwarz ist. Es hingen in Washington keine "Farbige/Weiße"-Schilder mehr. Aber in den Köpfen der Menschen war die Diskriminierung noch lange nicht abgeschafft.
Sie hat einen Traum. Sie wollte nicht, dass es einen besonders fairen und mutigen Chef braucht, um sie einzustellen. In einem Schönheitssalon, in dem alle weiß waren, fing sie an als Shampoo-Mädchen und arbeitete sich hoch. Als der Chef sie zur Leiterin des Salons macht, zeigen die Leute ihr hässliches Gesicht: Kolleginnen kündigen, weil sie nicht unter ihr als Chefin arbeiten wollen, rohe Eier fliegen ans Schaufenster. Davenport geht weiter ihren Weg. Eine Explosion auf dem Gehweg vor dem Schönheitssalon: Davenport lässt sich nicht von ihrem Traum abbringen. Dann explodiert eine Bombe, direkt neben dem Frisierstuhl, an dem sie ihre Kunden verwöhnt. Nur durch viel Glück passiert niemandem etwas. Feige Gewalt, von dem sich Davenport nicht unterkriegen lässt. Auch ihr Chef steht hinter ihr.
"Es warten Gefahren auf mich. Aber ich bin bereit zu kämpfen"
Dann kam die Nacht, an die sich Davenport bis heute mit Schaudern erinnert. Sie ist auf dem Weg nach Hause, alleine fährt sie mit ihrem Auto durch die Dunkelheit. Hinter ihr flammen plötzlich Scheinwerfer auf. Das Auto kommt näher, die Scheinwerfer blenden. Der Fahrer hinter ihr fährt dicht auf, sehr dicht. Davenport hat panische Angst. Ihr Verfolger lässt nicht locker. Dann, endlich, erscheint eine Tankstelle am Straßenrand. Davenport rettet sich in die belebte Helligkeit. Der Wagen hinter ihr fährt weiter geradeaus. Sie ist ihn los. "Erst als ich mich ein wenig beruhigt hatte, sah ich, dass alle in der Tankstelle ausnahmslos weiß waren. Die wären mir bestimmt nicht zur Hilfe gekommen."
Eine Situation, nicht wirklich ungewöhnlich, nicht über die Maßen brenzlig, fast schon normal – doch für eine Frau wie Davenport, mit den täglichen Beleidigungen, den Vorurteilen und Drohungen, mit all dem erfahrenen Hass, ist nichts normal. "Das war der entscheidende Moment in meinem Leben. Ich wusste plötzlich, dass da draußen Gefahren und Horror auf mich warten. Aber mir wurde klar, dass ich nicht weglaufen würde. Ich fühlte mich beschützt von Gott. Ich war bereit, zu kämpfen."
An einem Mittwochmorgen im August 1963 macht sie sich zu Fuß auf den Weg in die Innenstadt. Den gesamten Sommer über hatte es in knapp 200 Städten über 800 Demonstrationen für die Gleichberechtigung der Rassen gegeben. Die Zeit war gekommen. An diesem 28. August stand der Höhepunkt der Empörung an: der Marsch auf Washington für Freiheit und Arbeit. Marie Davenport, das schwarze Mädchen aus Mississippi, die nie begreifen konnte, warum sie nicht mehr mit ihrer Freundin Anne spielen durfte, die selbst keinen Hass spürte aber stets zu spüren bekam, die junge Frau, die Angst hatte, im Dunkeln alleine auf der Straße zu sein, der Mensch, bei dem die Menschen immer zuerst die Hautfarbe sehen. Mit ihr marschierten 250.000 Menschen. 250.000 Schwarze und Weiße, die gegen Rassentrennung und für Bürgerrechte kämpften. "Schwarze und Weiße kämpften zusammen und hatten Spaß. Es war wie bei einem fröhlichen, friedlichen Festvial. Das war eine starke Botschaft. Wir sind doch alle gleich, jetzt wollen wir auch alle frei sein."
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Marie Davenport ist nicht allein. Fünf Führer der Bürgerrechtsbewegung halten Reden, erinnern, mahnen, fordern. Dann betritt ihre Leitfigur die Bühne: Dr. Martin Luther King jr. Baptistenpastor und charismatischer Kopf der Bürgerechtsbewegung, der die verschiedenen Proteste und Strömungen zu einer Massenbewegung geeint hat, dessen zivilen Ungehorsam die meisten von ihnen achten.
King beginnt zu sprechen. Er zitiert die Bibel, die Unabhängigkeitserklärung der USA, deren Verfassung und Abraham Lincoln, den Präsidenten, der die Sklaverei abschaffte. Die Gospel-Sängerin Mahalia Jackson ruft ihm zu "Erzähl ihnen von dem Traum!" King legt sein vorgefertigtes Redemanuskript beiseite und beginnt zu predigen. Er nimmt den Amerikanischen Traum auseinander, diese Lebensphilosophie, nach der du alles schaffen kannst, wenn du nur willst. Er ruft in die Welt, wie unerreichbar dieser Traum für die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung ist. Es ist ein Traum von Gerechtigkeit, Freiheit, Arbeit und Gleichheit, die Sklaverei und Hass verdrängen. Marie Davenport fühlt sich direkt angesprochen, tief berührt.
Der "Amerikanische Traum" gilt nicht für alle
Diesen Traum hat Marie Davenport noch immer: "Die gelebte Realität in Amerika hat nichts zu tun mit dem 'Amerikanischen Traum'." King ist noch immer ihr Held. Sie hat seine Büste im Schlafzimmer und sein Botschaft im Herzen. Sie trägt sie weiter. "Denn noch sind wir nicht am Ziel. Wir marschieren immer noch. Wir haben schon viel erreicht. Aber noch leben wir nicht in einer Welt der Gleichheit." Amerika ist noch nicht da, wo es sein sollte. "Schauen Sie in die Gefängnisse. Schauen Sie auf die Arbeitslosen." Über den Fall Trayvon Martin, der schwarze Jugendliche, den ein Nachbarschaftswächter erschossen hat und freigesprochen wurde, will und kann Davenport nicht sprechen. Zu aufwühlend sei diese hanebüchene Ungerechtigkeit. Doch sie seien auf dem richtigen Weg. Große Fortschritte habe die USA gemacht im Traum von Martin Luther King. Gleichheit statt Teilung.
Sie wird wieder marschieren. Wenn sich der Marsch auf Washington zum 50. Mal jährt, führt sie die Menge mit an. Als eine der Veteranen, die damals dabei waren, als ihr Held Martin Luther King sich traute, öffentlich zu träumen.
Ihr 20-jähriger Enkel fragte Davenport einmal, wie King das geschafft habe: "Er hat etwas gefunden, für das er bereit war, sein Leben zu geben – und am Ende tat er es wirklich. Aber aufgrund seines Vermächtnisses wird er nie wirklich sterben. Was er geschafft hat, war wegweisend für alle Menschen, ganz gleich welcher Hautfarbe."
Ihre liebe Freundin Anne, mit der sie nicht mehr spielen durfte, hat sie nie vergessen. Zwei Mal hat sie ihr Elternhaus schon besucht, jedes Mal war Anne vereist. Davenport will sie unbedingt wiedersehen. "Sie hat mich auch nicht vergessen, das weiß ich." Das Wiedersehen mit Anne ist ein Traum. Davenport ist es gewohnt zu kämpfen. Sie wird sich auch diesen Traum erfüllen.