Stadien werden gern als "Kathedralen für den Fußball"bezeichnet. Gibt es architektonische Parallelen zwischen dem Fußballstadion und der Kirche?
Eugen Eckert: Ja, mir ist das Phänomen zum ersten Mal in der Katharinenkirche in Oppenheim klar geworden. Diese Kirche ist seinerzeit an einem Standort gebaut, an dem so wenig Menschen lebten, dass sie den großen Raum zahlenmäßig gar nicht füllen konnten. Man hatte den Bau größer entworfen als notwendig, mit dem Ziel, die Größe Gottes erlebbar zu machen. Die Mehrheit lebte im Mittelalter in Hütten oder in einfachen Häusern. Die Verhältnisse waren eng, gedrückt, bedrängt. Als Kirchenbesucher konnten sie plötzlich das Große betreten, das dem Himmel gleich oder zumindest ein Abbild des Himmels war, größer als jeder andere Bau und viel größer als ihre eigene Welt. Ähnlich erscheint mir das bei den Fußballstadien heute auch, nur noch besser. Alle damaligen Kirchen brauchten Stützen, um das Dach und Gewölbe zu tragen. In der modernen Architektur der Stadien hingegen ist man mit der gegenwärtigen Kenntnis der Statik in der Lage, mit leichten Materialien ein Dach zu konstruieren und damit bis zu 80.000 Menschen den ungehinderten Blick auf das Geschehen zu geben.
Gibt es auch Parallelen, wenn man von außen auf die Kirchen blickt? Schließlich sind sie oft Wahrzeichen eines Dorfes oder der Stadt.
Eckert: Das mit dem Wahrzeichen gilt in gleicher Weise auch für ein Stadion. Zum Beispiel hat bei unserem Frankfurter Stadion die Namensgeberin, also die Commerzbank, ganz bewusst den Namen in riesigen Lettern auf das Dach setzen lassen, ich glaube, den zweitgrößten, die es in Europa überhaupt gibt. Die können sogar die Passagiere in den Flugzeugen beim Landeanflug auf den Flughafen lesen.
Erfüllte der Kirchturm eine ähnliche Funktion?
Eckert: Genau. Der Kirchturm war das höchste Gebäude und ein Hingucker in der Silhouette der Stadt. Auch die Fußballstadien können heute einen solchen Status haben, wenn man sie nicht, wie beispielsweise in Mainz, gerade an den Stadtrand baut. In Frankfurt macht die Lage zwischen Flughafen und Innenstadtbereich auf das Stadion aufmerksam.
Also geht es auch bei beidem um die zentrale Lage?
Eckert: Ja, das hat auch etwas mit der Funktionalität zu tun, etwa der liturgischen Nutzung. In Kirchen ist man mit Prozessionen eingezogen. Gerade im Mittelalter waren die Sakralbauten der Ort, an dem Großveranstaltungen schlechthin stattgefunden haben. Zu modernen Stadien gehören auch "Prozessionen" - in den Einzügen der Sportler. Daher lassen sich auch ähnliche architektonische Lösungen feststellen.
Welche weiteren Gemeinsamkeiten haben Kirchen und Fußballstadien? Gibt es sie auch auf der emotionalen Ebene der Besucher?
Eckert: Natürlich, das ist sozusagen der "heilige Schauer", der sich beim Menschen einstellt. In einer Kirche, besonders einer alten, begegne ich mit großer Wucht den christlichen Traditionen. Dort stehe ich auf einem Boden, auf dem mir hunderte, manchmal tausende von Jahren Geschichte begegnen. Dann werde ich als Mensch ganz demütig.
In einem großen Stadion wird der "heilige Rasen" zu diesem Boden, den nicht ich, sondern nur die Akteure betreten dürfen. Im Prinzip ist das wie beim Allerheiligsten in den Kirchen. Die Altarbereiche sind in aller Regel abgesperrt. Mit Gottesdienstbeginn aber, oder mit Spielbeginn, erfüllt sich das Allerheiligste mit Leben, das die (Fan-)Gemeinde emotional packen will. Im Stadion wird die Emotionalität dann noch einmal in besonderer Weise durch den Introitus, also den Einzug, gefördert. Auch hier werden wie beim Orgelvorspiel in der Kirche erst einmal Lieder gesungen. Dann ruft der Stadionsprecher litaneiartig die Vornamen der Spieler auf. Das ganze Publikum im Stadion antwortet darauf mit den Nachnamen. In Frankfurt haben wir zum Beispiel auch noch den Fußballer Alex. Wenn der Name "Alex"kommt, dann ruft das Stadion: "Meier Fußballgott". Es folgt der Einzug der Spieler mit den begleitenden Kindern an der Hand. Auch hier könnte man eine Parallele in der katholischen Praxis der Messdiener sehen. Sie merken, es gibt in Hülle und Fülle Parallelen zwischen dem Geschehen im Stadion und in der Kirche.
Man kann also auch von einer echten Liturgie im Stadion sprechen?
Eckert: Das kann man in jedem Fall. Die Schiedsrichter übernehmen Aufgaben, die im Gottesdienst bei Pfarrerinnen und Pfarrer und Kirchenvorständen liegen. Sie sorgen für einen pünktlichen Ablauf - vom Anfang bis zum Ende und dafür, dass alles den Regeln entsprechend verläuft. Und dann gibt es im Stadion noch die "Einpeitscher", die mit Megafonen in den Händen mit dem Rücken zum Spiel sitzen und anstimmen, was die Fangemeinde mitsingen soll. Das könnte man mit Kirchenmusiker vergleichen, zu deren Aufgaben das Anstimmen und Begleiten des Singens der Gemeinde gehört.
Es gibt auch Kapellen in Fußballstadien. Welche Rolle spielen sie?
Eckert: Diese Kapellen sind wie die Kirchenräume in der Innenstadt. Wenn Sie in ein bayrisches Dorf fahren, dann finden Sie die Kirche immer am Marktplatz. Sie bietet die Möglichkeit, sich aus dem Trubel des Marktgeschehens in einen heiligen Raum zurückzuziehen. Auch mir sagen manche im Stadion, das sie froh sind, sich in die Kapelle setzen und eine Kerze anzünden zu können, wenn das Spiel zu spannend wird und der Puls nach oben geht. Stadionkapellen sind übrigens auch immer Orte des Gedenkens, was bei uns im Gästebuch deutlich ablesbar ist. Menschen besuchen die Kapellen vor den Spielen, um Totengedenken zu halten. Sie erinnern sich an andere, die mit ihnen über Jahre und Jahrzehnte im Stadion waren. Und sie schreiben ins Gästebuch: "Du warst doch immer bei uns und jetzt ist dein Platz leer. Wir denken an dich."Manchmal machen sie ein Erinnerungsfoto von diesen Zeilen und brennenden Kerzen, und schicken es an Freunde oder Angehörige. Die Kapelle ist damit auch im Stadion, und manchmal besonders dort, ein Ort des Erinnerns und Gedenkens.
Wenn der Stadionbesuch ein quasi-religiöses Erlebnis ist. Was passiert dann im Falle einer Niederlage, was passiert beim Sieg?
Eckert: Echtes Fan-Sein hängt überhaupt nicht von Sieg oder Niederlage ab, sondern von dem besonderen Moment, sich an einem Spielort in die Atmosphäre und einen Verein "zu verlieben". Dafür gibt es immer eine Initiation. Diese hat mit den ersten überwältigenden Begegnungen zu tun. In Frankfurt war es lange sogar so, dass man den Eltern nach der Geburt des Kindes im Krankenhaus als Teil der Erstausstattung einen Strampler von Eintracht Frankfurt schenkte. Und es gibt nicht wenige Kinder, die ihre erste Mitgliedschaft bei Eintracht Frankfurt haben. Heimatgefühl beginnt eben schon an der Wiege. Und mit der Zeit wächst daraus eine Heimatbindung, die ich schon bei Jugendlichen erlebe, die Fans geworden sind und das selbst dann bleiben, wenn ihre Mannschaft absteigt. Echte Fans gehen mit ihrem Verein durch dick und dünn, sind treu, manchmal treuer, als Menschen gegenüber. Darin unterscheiden sie sich nicht von treuen Kirchenmitgliedern. Natürlich freuen sich alle Fußballfans darüber, wenn ihr Team siegt. Aber letztlich ist das zweitrangig.