"Come Together" - ein schönes Motto hatte der Eurovision Song Contest (ESC) in diesem Jahr in Stockholm. Es war eine klare Aufforderung, zusammenzukommen - und Europa hat diesen Imperativ gerade nötig. Fliehkräfte lassen die Europäische Union (EU) immer stärker ausfransen, vergessene Grenzen werden wieder hochgezogen, bestehende immer schwerer zu überwinden. Und es gab wohl einen schwedischen Erkenntnisgewinn zwischendurch: 2013 war der ESC in Malmö noch mit "We Are One" überschrieben: Wir sind eins. Anscheinend ist dieses Gefühl für ein Europa, das wieder stärker auf die nationalen Karten setzt, keine Option mehr. Das gesamt-europäische Bullerbü ist Geschichte.
Aber offenkundig auch das schwedische Bullerbü. Denn die Eurovisions-Produktion war zwar perfekt auf die Sekunde genau m Zeitplan, auf den Millimeter genau ausgearbeitet, höchsteffizient, doch das Herz fehlte oft. Die tänzerische Adaption der Flüchtlingskrise im ersten Halbfinale war die einzige Ausnahme. Die Professionalität der Produktion und die Professionalität der teilnehmenden Sänger, Sängerinnen und Gruppen, zum größten Teil durch die harte Schule unterschiedlichster nationaler Casting-Shows gegangen, sorgten am Ende zwar für eine sehr gut Qualität der gesamten Show, aber gleichzeitig wehte stets eine rationale Kühle durch Proben und Pressekonferenzen.
Es gab sehr fokussierte, junge Profis auf der Bühne, die ziemlich genau wussten, was sie konnten, und ganz genau wussten, was sie wollten: Da ging es um den eigenen Erfolg. Und es gab gestandene Profis hinter der Bühne, die nur eine sehr gute Show abliefern wollten. Der Erfolg ist alles was zählt, kleines Zeichen dafür: Zwischen der Globen-Arena als Veranstaltungsort und der benachbarten Bahn-Station gibt es eine Brücke, zwei Wochen lang wurden hierauf den lieben langen Tag die Eurovisions-Lieder gespielt. Die 16, die es in den Halbfinalen nicht schafften, wurden schnell aussortiert, an den letzten beiden Tagen gab es nur noch die 26 qualifizierteren Finalisten. Das ist richtig für einen Wettbewerb, aber weder gut genug noch angemessen für ein großes gemeinsames Fest der Eurovision.
Die Europäer in Polonaise hinter dem Amerikaner
Doch Schritte in diese Richtung muss man scheinbar gehen, wenn man das "immer größer und glamouröser" der Show so inhaltsleer weiter vorantreiben will, wie es in den vergangenen Jahren geschehen ist. Auch in diesem Jahr wurde auf zwei Zahlen herumgeritten: 200 Millionen Zuschauer und über 50 Länder, die zugucken. Die 200 Millionen sind für beide Halbfinale und Finale zusammengerechnet, die über 50 Länder wurden stets samt Zusatz - China und zum ersten Mal die USA! - mit stolzgeschwellter Brust vorgetragen. Es hat den Anschein, als wäre sich hier Europa nicht genug. Nur so ist es ja wohl auch zu erklären, dass Australien zum zweiten in Folge am ESC teilnahm. Diesmal Gott sei Dank nicht direkt fürs Finale gesetzt, musste sich das Land auf der anderen Seite der Erdkugel qualifizieren. Aber hat Australien da nicht dem elftplatzierten Mazedonien den Platz weggenommen? Liegt uns das Balkanland nicht viel näher als der weitest entfernte Kontinent?
Endgültig machten die Organisatoren des ESC in Stockholm deutlich, wie wenig Selbstachtung sie für ihre eigene 60-jährige Traditionsveranstaltung hatten, als sie Justin Timberlake als Pausenfüller für den Finalabend einluden. Während das transeuropäische Licht von 26 durch die Bank weg sehr guten Wettbewerbs-Beiträgen unterm Scheffel stand, leuchtete der mit Sicherheit teure US-Superstar und durfte gönnerhaft das Können der echten Teilnehmenden loben. Erträglich war es dadurch, dass die Wettbewerbs-Sängerinnen und -Sänger anschließend zum einem Timberlake-Song eine Polonaise durch den Green Room machten, gerade so als stehe Gottlieb Wendehals auf der Bühne. Aber eines der Timberlake-Lieder hatte ja der Schwede Max Martin mitgeschrieben. Das war den Schweden schon wichtig zu zeigen, dass ohne sie im internationalen Musikgeschäft eben nichts mehr geht.
Wie gut die Schweden Show können, das machte die Punktevergabe deutlich. Inspiriert vom dortigen Eurovisions-Vorentscheid namens Melodifestivalen wurden diesmal die Punkte von den fünfköpfigen professionellen Jurys und Televoting gesplittet. Die Jury-Voten kamen wie gewohnt, Punktegeber-Land für Punktegeber- Land. Fürs Televoting wechselte die Perspektive, hier wurde vom Empfänger-Land aus geschaut. Für die einzelnen Länder wurden die Ergebnisse aus den jeweiligen Telefon-Abstimmungen in den 41 anderen Ländern zusammengerechnet und komplett den 26 Final-Teilnehmern auf der Anzeigentafel gutgeschrieben. Zuerst die Länder mit den 16 schlechtesten Ergebnissen, dann Schritt für Schritt der Rest: zuerst das Land mit dem zehnbesten, zuletzt das mit dem besten Televoting. So wusste man erst nach der allerletzten Wertung, wer gewonnen hatte.
Dieser Showdown war extrem nervenaufreibend und pure Spannung. Und brachte außerdem ein Ergebnis, das die Halle in Stockholm beben ließ. Das sperrige Lied "1944", in dem Komponistin und Textdichterin Jamala an die Vertreibung der Krimtartaren vor über 70 Jahren durch Stalin erinnerte, setzte sich am Ende durch. Auch wenn es diesmal Jahr im Gegensatz zu den beiden vergangenen Jahren keine Pfiffe gegen Russland gab, schien das Eurovisions-Publikum mit der Siegerin aus der Ukraine sehr, sehr zufrieden. Australien wurde Zweiter, Russland Dritter und das beste EU-Land landete auf Platz vier und hieß Bulgarien. Ein wunderbarer und vor allem verdienter Erfolg für das Land, das sonst üblicherweise eher die Korruptions-Hitparaden der Europäischen Union anführt.
Der ESC auf den Weg in eine fremde Ukraine
In der anschließenden Pressekonferenz wurde Jamala als Erstes gefragt, ob der nächste ESC jetzt nicht eigentlich auf der von Russland annektierten Krim sein müsse? Um kein Öl ins Feuer zu gießen, antwortete die 32-jährige Krimtatarin sehr diplomatisch, es solle auf jeden Fall in der Ukraine sein. Und genau das ist auch der Ehrgeiz der "European Broadcasting Union" als Veranstalterin des ESC, dass jedes Gewinnerland - mit der Ausnahme von Australien - den ESC selbst zuhause ausrichten können soll. Organisatorische und finanzielle Hilfe wurde dafür gleich in Aussicht gestellt.
Und die Ukraine hat ja Erfahrung. 2004 gewann Ruslana für eine autoritär gelenkte Ukraine den ESC, in der anschließenden erfolgreichen Orangenen Revolution war sie eine der wichtigen Gestalten, so dass der ESC 2005 in einem demokratischeren, offeneren Land stattfand. Die Geschichte hat gelehrt, dass schlechte und korrupte Politiker und ein allzu kurzsichtige Politik des Westens Revolutionen der besten Intentionen scheitern lassen. Und so macht sich die Eurovision jetzt wieder auf den Weg in eine fremde Ukraine. Vielleicht sogar mit mehr Fragezeichen als vor zwölf Jahren.
Es wird schwer zu ergründen, weshalb Jamala gewonnen hat. Weshalb das komplizierte Lied aus allen Ländern bis auf Island Televoting-Punkte bekommen hat, aus Russland zum Beispiel zehn. Ein türkischer Journalist sagte zu Jamala bei der Sieger-Pressekonferenz etwa, ihr Horoskop habe vorausgesagt, dass sie gewinnen müsse. Ob sie an so etwas glaube. Sie antwortete als Tochter eines muslimischen Krimtataren und einer armenischen Christin: "Nein - ich glaube an Gott."