Hamburg in den 1980er-Jahren: Über die Sonntagabend-Gottesdienste in der evangelisch-lutherischen Hauptkirche St. Petri spricht die ganze Stadt. Wolfram Kopfermann, Hauptpastor von St. Petri, feiert charismatische Gottesdienste mit Pop-Songs und in Alltagssprache. Bis zu 1000 Besucher kommen dorthin. Kopfermann ist zu dieser Zeit die zentrale Figur und Leiter der Geistlichen Gemeindeerneuerung in der Evangelischen Kirche in Deutschland.
1988 tritt Kopfermann aus der evangelisch-lutherischen Kirche aus. Er ist überzeugt, dass ein Aufbruch, eine Gemeindegründungswelle stattfinden wird und dass in einer pluralistischen Kultur eine Vielzahl von Kirchenformen dazugehören werden. Kopfermann gründet in Hamburg die Anskar-Kirche Deutschland e. V. (AKD). Sie wird der neocharismatischen Bewegung zugerechnet, bezeichnet sich selbst als evangelikal-charismatisch.
Bald doppelt so viele Gemeinden?
Der Name der neuen Kirche kommt von Anskar (801-865), Mönch, Missionar und erster Erzbischof von Hamburg und Bremen. Mit dieser Namenswahl stellt sich die Anskar-Kirche bewusst in eine christliche Tradition und bekräftigt ihren selbstgegebenen Auftrag zur Mission.
Rund 500 Gemeindemitglieder folgen Kopfermann in die Anskar-Kirche, Tochtergemeinden werden gebildet. Doch nach der Euphorie kommt Ernüchterung. Der Zeitgeist ändert sich, auch finanziell gerät die AKD in Schwierigkeiten. Mitte der 1990er-Jahre kommt es zu einer Krise. Die Anskar-Kirche schrumpft und konzentriert sich auf Gemeindearbeit.
2013 übernimmt Pastor Tillmann Krüger die Gesamtleitung der AKD, bereits seit 2008 leitet der Theologe, der in England promoviert hat, die Gemeinde in Hamburg-Mitte. Er forciert die Anbindung der Anskar-Kirche an andere Gemeinden: Seit 2011 ist sie Gastmitglied der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland (ACK), seit 2014 Vollmitglied der Vereinigung evangelischer Freikirchen (VEF), auch der Kontakt zur Nordkirche wird gepflegt.
Zurzeit zählt die AKD nach eigenen Angaben rund 680 erwachsene Mitglieder in sechs Gemeinden deutschlandweit (Hamburg-Mitte, Hamburg-West, Wetzlar, Marburg, Bad Arolsen, Nürnberg). Unter Krügers Leitung setzt die Freikirche erneut auf Wachstum: Die Zahl der Gemeinden soll sich von sechs auf zwölf verdoppeln (Im Oktober 2016 wird eine siebte in Offenbach gegründet).
Drei entscheidende Fragen
Die Anskar-Kirche betont die Autorität der Bibel, zählt die altkirchlichen Bekenntnisse zum Glaubensfundament und stimmt mit der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz von 1972 überein. Zudem beruft sie sich auf die Lausanner Verpflichtung von 1974, die zum Ziel hat, aktiv die Ausbreitung des Christentums zu fördern. Die von Kopfermann entwickelten "Grundkurse des Glaubens" werden bis heute in vielen christlichen Gemeinden angeboten.
Die Gottesdienste der Anskar-Kirche orientieren sich an der lutherischen Agende I und werden durch freie Elemente ergänzt. Emotionen werden in ihnen wie in allen charismatischen Gottesdiensten manifestiert, doch zugleich gehört zur Tradition der AKD auch Reflexion, so werden theologische Fortbildungen angeboten.
In der Freikirche wird die Glaubenstaufe praktiziert: Der Glaube des Täuflings ist entscheidend, bei Minderjährigen prüft die Gemeinde, ob nicht Eltern oder Paten den Täufling beeinflussen. Wer aus einer anderen Kirche kommt und schon getauft ist, braucht das Sakrament nicht zu wiederholen, muss aber vor dem Eintritt in die Anskar-Kirche trotzdem ein Taufseminar besuchen, um sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen. Laut Pastor Krüger finden rund 70 Prozent der Gemeindemitglieder über Glaubenskurse zu den Gemeinden, häufig 35- bis 60-Jährige, die eine Lebenskrise hinter sich haben.
Jeder Anwärter muss drei Fragen beantworten: Bist du bereit, Jesus Christus vom ganzen Herzen nachzufolgen? Bist du bereit, dich mit deinen Gaben in die Gemeinde einzubringen? Bist du bereit, dich der bestehenden Leitung unterzuordnen? Hier zeigt sich die evangelikale Ausrichtung der Freikirche – das persönliche Moment: Jeder Einzelne muss die Glaubensfragen für sich klären und vor sich selbst verantworten.
Finden, Entfalten, Weitergeben
Die Frömmigkeit im Alltag wird in Hauskreisen und in der aktiven Mitarbeit gelebt. Hauskreise sind Gruppen mit acht bis zwölf Mitgliedern, die sich wöchentlich treffen, um in der Bibel zu lesen und sich auszutauschen. Die Teilnahme ist nicht zwingend, wird jedoch erwartet. Gemeindemitglieder sollen sich mit ihren Fähigkeiten einbringen, etwa in Lobpreisgruppen, bei er Lebensmittelausgabe für ärmere Menschen, im EDV-Bereich – so wird die Internetpräsenz sehr gepflegt – oder den Kindergruppen. In Hamburg-Mitte etwa sind von den 275 Mitgliedern 200 aktiv dabei. Als Freikirche finanziert sich die Anskar-Kirche selbst.
Die Aufgaben innerhalb der AKD sind klar strukturiert. Die Kirche ist dem episkopalen Kirchenmodell zuzuordnen, also hierarchisch aufgebaut. Es gibt eine Leitungsebene, zu der die Geschäftsführung, ein Ältestenteam und Pastoren zählen, darunter auch Ruheständler wie Gründer Wolfram Kopfermann.
Unterhalb der Leitung ist die Gemeindearbeit organisiert, die auf drei Bausteinen fußt:
- Finden. Dazu zählen Glaubenskurse, Newcomer-Arbeit, auch offensives Werben. Die Gemeinde Hamburg-Mitte etwa geht zweimal im Jahr zur Lebensfreude-Messe, ein esoterisch angehauchtes Event, das für sich mit den Schlagworten Spiritualität, Ökologie und Wellness wirbt und bei dem viele Menschen nach einem Lebenssinn suchen.
- Entfalten. Damit bezeichnet die AKD das Ausleben des Glaubens in Gottesdiensten, der Gemeindearbeit, den Hauskreisen, bei Angeboten für Familien, in Männergruppen oder bei der Pfadfinderarbeit der Royal Rangers.
- Weitergeben. Darunter versteht die Anskar-Kirche Lebenshilfe, Heilung und Prophetie. Regelmäßig organisieren sich die Gemeinden zu Heilungsdiensten, den "Healing on the streets", und stellen sich mit einem Stand zum Beispiel in Hamburg an den stark frequentierten U-Bahnhof Mundsburg, um Passanten Gebete anzubieten. Auch Seelsorge, Sozialdiakonie und Ehevorbereitung gehören zu diesem Baustein.
So offen und sozial die AKD nach außen auftritt – zum Beispiel bietet sie neuerdings auch Sprachkurse für Flüchtlinge an –, so streng wirkt sie mitunter nach innen. Traditionelle Werte werden hochgehalten, an der Unauflöslichkeit der Ehe festgehalten. So gibt es, wenn auch nach eigenen Angaben sehr selten, Fälle von Gemeindezucht. Wollen sich zum Beispiel Eheleute trennen, wird dies im Ältestenrat besprochen und die Scheidungswilligen müssen sich verantworten.
Die Familie ist nach Überzeugung der Anskar-Kirche die Idealform des Zusammenlebens, Homosexualität entspricht für sie nicht dem Willen Gottes. Lesbische und schwule Paare werden nicht gesegnet oder getraut. Allerdings dulden Gemeinden wie die in Hamburg-Mitte homosexuelle Mitglieder, sofern sie ihre Neigung nicht ausleben.