Warum uns das 2016 wichtig war: Dirk Wagner kenne ich, weil wir zusammen von 2010 bis 2013 berufsbegleitend Theologie studiert haben. Er spielte oft Jazz auf dem Klavier, wenn wir abends im Musikzimmer der Evangelischen Akademie Hofgeismar zusammensaßen. Dirk war meistens entspannt - vielleicht, weil er ganz genau wusste, was er wollte: Pastor werden. Mit über 50 Jahren und unter Verlust seines Top-Jobs in der Bauindustrie. Nochmal zurück auf die Schulbank, erst das Studium, dann zwei Jahre Vikariat in Kassel. Dirk ging so zielstrebig geradeaus, dass mir fast schwindelig wurde. Und jetzt ist er angekommen - auf einer Stelle, die buchstäblich für ihn gemacht wurde. Es ist berührend zu erleben, wie einer mit seinem Beruf und seiner Berufung genau da landet, wo er hingehört! - Anne Kampf, Redakteurin bei evangelisch.de
Industrieseelsorge im Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen: Ist es der richtige Ort und die richtige Aufgabe für Sie?
Wie gut gelingt es Ihnen jetzt, auf "Pastor" umzuschalten?
Wagner: Ach, das habe ich durch die Ausbildung, das Vikariat, ganz gut gelernt. Die Vorstellung, Pastor zu sein, war eigentlich schon während des Studiums zu einem ganz wesentlichen Lebensinhalt geworden. Inzwischen habe ich mich mit der Aufgabe gut identifiziert. Das Anliegen, das dahinter steckt, ist mir wichtig.
In der Kirche – im Gottesdienst zum Beispiel – ist selten von der Arbeitswelt die Rede…
Wagner: Genau! Das ist mir auch aufgefallen, deswegen habe ich auch gesagt: Sowas wie Industrieseelsorge ist notwendig. Da muss die Kirche hin. Die Kirche muss da hin, wo die Menschen sind und wo ihre Nöte sind – und nicht abwarten, bis jemand kommt. Die Fragen und Probleme, die in der Arbeitswelt herrschen, die machen den Leuten vielfach zu schaffen. Zwar ist jeder Betrieb wieder anders, selbst jede Abteilung in so einem großen Unternehmen wie VW, aber insgesamt sind die Fragen da und ich denke, die Kirche hat Antworten darauf zu geben – oder zumindest eine Botschaft, von der man Antworten ableiten kann.
Fangen wir erstmal mit den Fragen an: Mit welchen Sorgen und Problemen kommen die Menschen zu Ihnen?
Wagner: Es sind zum Teil biographische Fragen, zum Teil auch Fragen zum Umgang miteinander in ihrem Unternehmen. Zum Beispiel: "Wie kann ich mein eigenes Unternehmen voranbringen? Wie kann Arbeit mehr Spaß machen? Wie kann das Miteinander besser gelingen?" Zum Teil sind es auch Fragen der eigenen Menschenwürde.
Menschenwürde? Können Sie ein Beispiel nennen?
Wagner: Zum Beispiel hört man immer wieder – ganz egal von welchem Unternehmen oder Betrieb –, dass einzelne Führungskräfte einen extrem autoritären Stil an den Tag legen. So, als müssten sie ihre Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen zu Kriechern erziehen oder von Ihnen besondere Gehorsamsakte verlangen. Das geht nicht! Das ist in meinen Augen entwürdigend, da werden Grenzen überschritten.
Ich könnte mir vorstellen, Sie würden am liebsten hinlaufen und dem Betreffenden Ihre Meinung sagen …
"Ich nehme die Mentalität hier in Wolfsburg so wahr, dass die Menschen nicht so das Herz auf der Zunge haben wie zum Beispiel die Berliner"
Wagner: Richtig!
… aber das wird vermutlich nicht möglich sein.
Wagner: Natürlich kann ich mich nicht über betrieblichen Strukturen hinwegsetzen. Aber Grenzüberschreitungen müssen in irgendeiner Weise angesprochen werden. Ich muss dann einen Ansatzpunkt finden.
Und wo ist der?
Wagner: Bei den Ratsuchenden selber. Mit denen muss man gemeinsam überlegen, wie sie ihre Sache in den betrieblichen Strukturen vortragen können. Bei VW gibt es zum Beispiel Betriebsräte, eine gut arbeitende Gewerkschaft, Vertrauensleute der IG Metall, es gibt Sozialcoaches, medizinische und psychologische Dienste, das hat VW alles. Andere Betriebe haben ähnliche Einrichtungen, vielleicht nicht so stark ausgeprägt. VW selber ist ja wie eine eigene Stadt, und die sorgen für ihre Leute, das muss man schon sagen.
Wenn es diese ganzen Strukturen ja gibt – Vertrauensleute, Betriebsrat und so weiter – wofür genau brauchen die Mitarbeitenden Sie als Pastor?
Wagner: Sie brauchen mich, weil ich unabhängig bin. Ich bin nicht Teil des Betriebes. Ich kann geschützte Räume bieten: Was man mir anvertraut, das bleibt auch bei mir. Und ich kann theologische Aspekte deutlich machen.
Was antworten Sie theologisch, zum Beispiel auf die Frage nach der Menschenwürde?
Wagner: Die Freiheit ist das höchste Gut des Menschen. Das ist eine Grundaussage, die letzten Endes aus allem, was in der Bibel steht, abzuleiten ist. Ebenso die Gleichheit. Das sind ja nun Werte, die aus einem biblischen Mandat heraus in unsere Kultur eingesickert und dort auch fest verwurzelt sind. So würde ich argumentieren.
Machen Sie die Erfahrung, dass Menschen sich nach einem Gespräch mit Ihnen ermutigt fühlen?
Wagner: Ich denke schon, dass allein die Möglichkeit, mal über seine beruflichen Probleme zu sprechen, den Menschen hilft. Jüngst hat mir jemand gesagt: "Soll ich jetzt in meinem Bekanntenkreis oder im Kollegenkreis über meine Probleme sprechen? Da machen die Leute doch sowieso gleich zu!" Das konnte ich gut verstehen. Man will sich ja nicht outen, so dass andere denken: "Der sieht alles nur negativ." Ich nehme die Mentalität hier in Wolfsburg so wahr, dass die Menschen nicht so das Herz auf der Zunge haben wie zum Beispiel die Berliner. Aber wenn jemand unter den Problemen leidet, dann ist es notwendig, dass er eine Stelle hat, wo er darüber redet. Ich schaue dann, wie ich helfen kann. In manchen Fällen bin ich selber nicht genügend kompetent. Ich bin kein Arzt und kein Psychologe, kein Schuldnerberater und auch kein Eheberater. Dann verweise ich an spezielle Einrichtungen. Hier in Wolfsburg gibt es viele gute, kompetente Leute.
"Ich würde nicht von vornherein zum jemandem gehen, wo 'Seelsorge' an der Tür steht, und dem irgendwas erzählen, wenn ich den nicht kenne"
Jetzt sind Sie – vielleicht zufällig – mitten in diese Krise bei VW hineingeraten. Davon sind nicht alle Mitarbeiter nur "betroffen", sondern es gibt ja auch welche, die durchaus mit verantwortlich sind. Kommen solche Mitarbeiter auch zu Ihnen und "beichten" beim Pastor?
Wagner: Dazu kann ich nichts sagen.
Angenommen, jemand käme mit diesem Anliegen. Was könnten Sie ihm sagen?
Wagner: Erstmal muss man zuhören. Ich habe keine rettenden Rezepte für VW parat. Sondern ich kann nur zum Beispiel sagen: Betrügen funktioniert nicht, wer auch immer das angeordnet haben mag. Die Frage ist, inwieweit jemand nach direkten Anweisungen handelt oder in vermeintlichem vorauseilendem Gehorsam etwas tut. Ich denke, Schuld bedarf der Aufarbeitung und auch der Umkehr. Und zwar bei dem betreffenden Einzelnen wie allgemein in der gesamten Gesellschaft. Mittlerweile ist diese "Geiz ist geil"-Mentalität ja schon gang und gäbe, dass man alles möglichst billig haben muss und in Vertragsklauseln das Kleingedruckte so klein hält, dass der andere den Beschiss gar nicht merkt. Dieser so genannt Skandal bei VW ist doch nur ein Phänomen unter vielen, wo die Gesellschaft einfach nicht mehr richtig tickt, wo man irgendwie die Spur verlassen hat, den geraden Weg des aufrichtigen Geschäftsgebarens, des guten Miteinanders, auch zwischen Vertragspartnern. Da gehört das Evangelium hin, genau an diese Stelle, das ist meine Meinung. Da sehe ich auch meinen Auftrag.
Das Evangelium mit welcher Aussage?
Wagner: Das Evangelium mit der Aussage, dass die Gebote Gottes die richtige Grundlage sind für das menschliche Miteinander. Diese Gebote gelten allgemein, sie sind die Grundlagen unserer Gesellschaft.
Wagner: Genau: Habgier.
Vielleicht passt das ja zu der Frage, ob VW-Manager hohe Bonuszahlungen erhalten sollten. Kommen Manager eigentlich auch zum Seelsorger?
Wagner: Ja, mit Managern habe ich auch schon Gespräche geführt, klar. Ich frage aber nicht immer so genau, auf welcher Ebene oder wo genau jemand arbeitet. Die Fragen sind unterschiedlich und ich denke, auch das Vertrauen muss sich erst aufbauen. Ich jedenfalls würde nicht von vornherein zum jemandem gehen, wo "Seelsorge" an der Tür steht, und dem irgendwas erzählen, wenn ich den nicht kenne.
Und wie macht man das – Vertrauen aufbauen? Wie machen Sie das?
Wagner: Indem ich versuche, Kontakte zu knüpfen. Wenn man mit einzelnen Leuten erstmal im Gespräch ist und die merken: Mit dem kann man umgehen, dem kann man auch was anvertrauen – dann wächst Vertrauen. Das spricht sich dann auch herum. Aber es braucht Zeit, das geht nicht von heute auf morgen.
Nach einem halben Jahr in dieser Funktion: Was würden Sie gerne im nächsten halben Jahr anders machen als bisher?
Wagner: Ich muss meine Zunge hüten!
Das Gespräch mit Dirk Wagner wurde im Mai 2016 in Wolfsburg geführt.