Der Eurovision Song Contest (ESC) ist nicht politisch – gebetsmühlenartig wiederholt die European Broadcasting Union (EBU) als Zusammenschluss öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten und als Veranstalterin des Großereignisses dieses Glaubensbekenntnis. Und füllt es dann auf ihre Weise. In diesem Jahr etwa gab es zum ersten Mal ein feierliches Fahnen-Hissen für die 42 Teilnehmerländer vorm königlichen Schloss in Stockholm: Sonntagmorgens um 8 Uhr wurden im Beisein zahlreicher Botschafter die Flaggen von Soldaten der königlichen Leibgarde hochgezogen. Dazu gab es schmissige Klänge vom schwedischen Heeresmusikkkorps, mit der Eurovisions-Fanfare, dem "Te Deum" von Marc-Antoine Charpentier sowie mit Loreens "Euphoria" und Måns Zelmerlöws "Heroes". Die beiden letzten schwedischen Eurovisions-Gewinnersongs fiepen übrigens auch ausgesuchte Fußgänger-Ampeln in Stockholm - "Euphoria" bei Rot und "Heroes" bei Grün.
Es ist halt alles eine Frage der Inszenierung. Die funktioniert auch deswegen, weil seit Anfang Mai durchgängig die Sonne in Stockholm scheint. Nur der Wind fehlt, zunächst für die Fahnen. (Eine bittere Enttäuschung bei einem Land, dessen Windmaschinen-Einsatz in der Eurovision legendär ist.) Sortiert nach schwedischen Ländernamen hängen die Fahnen von Armenien und Aserbaidschan fast nebeneinander. Nirgendwo beim ESC ist es ein Thema, dass die beiden Länder vor vier Wochen aufeinander geschossen haben, dass es wohl insgesamt 30 Tote auf beiden Seiten gab. Im ersten Halbfinale am Dienstag werden beide Länder singen. Nur Australien trennt sie an den Fahnenmasten. Das Land, das auch in diesem Jahr wieder teilnehmen darf, sich diesmal allerdings ordentlich qualifizieren muss und nicht direkt im Finale am Samstagabend starten darf.
Auch über Rumänien wurde nicht offiziell gesprochen. Dessen Vertreter Ovidiu Anton hatte knapp zehn Tage vor Probenbeginn erfahren, dass er nicht teilnehmen darf, da der rumänische Sender TVR Schulden in Millionenhöhe bei der EBU hat. Aber zu seiner offiziell bereits angesetzten ersten Probenzeit kamen im Pressezentrum viele ESC-Journalisten und -Fans zusammen, um gemeinsam mit der moldawischen Sängerin Lidia Isac den Refrain des rumänischen Lieds "Moment of Silence" zu singen. Besonders tragisch: Ovidiu Anton hatte in den Jahren zuvor bei den nationalen Vorentscheidungen viermal vergeblich versucht, zum ESC zu kommen.
Viel gesprochen wurde hingegen bei der akademischen Halbtags-Konferenz "Der Eurovision Song Contest und das sich verändernde Europa" in der Handelshochschule Stockholm. EBU und der schwedische Fernsehsender SVT hatten gemeinsam eingeladen. Spannende Podiumsdiskussionen brachten am Ende ernüchternde Erkenntnisse: Die Aktivistin Joanna Kurosz musste einräumen, dass sich die Menschenrechts-Situation in Aserbaidschan heute schlechter darstellt als vor dem ESC 2012 in Baku. Der österreichische Politiker Marco Schreuder bedauerte, dass in seinem Viertel zwei Blocks von der Wiener Stadthalle entfernt bei seinen türkischen und kroatischen Nachbarn die Eurovision 2015 nie angekommen sei. Der Professor Andreas Önnerfors schimpfte, wie schnell gerade die Grenze zwischen Schweden und Dänemark wieder hochgezogen worden sei, nachdem man beim ESC 2013 noch die grenzenlose Nähe von Malmö und Kopenhagen zelebriert hatte.
Die Flüchtlings-Thematik kommt auch beim ersten Halbfinale am Dienstagabend vor. 18 Tänzer und ein Kind, genannt "Grey People", treten nach den Wettbewerbs-Beiträgen in einem Pausenfüller auf, der viel mehr ist als nur ein Füller zwischendurch. Sie nehmen die Zuschauer mit auf ihre Flucht, auch die Erinnerung an das Bild des toten dreijährigen Aylan Kurdi aus Syrien an einem türkischen Strand wird den Zuschauer dabei nicht erspart. Am Ende waschen sich die "grauen Leute" die Farbe aus dem Gesicht, gehen von der Bühne ins Publikum - und man erkennt: Eigentlich sehen sie aus wie wir.
Ihre konkrete Kriegsflüchtling-Erfahrung bringt die Bosnierin Dalal im ersten Halbfinale mit. Sie war im Bosnien-Krieg selbst jahrelang ein Flüchtling in Kroatien und erweckt mit dem Eurovisions-Veteran Deen von 2004, der Kroatin Ana Rucner und dem Rapper Jala das wunderbare "Ljubav je" – zu deutsch: "Liebe ist" – zum Leben. Fast alle zunächst unter einer silber-goldenen Rettungsdecke. Es ist ein Zeichen der Solidarität mit denen, die auf Lesbos damit empfangen werden – wenn sie Glück haben. Der Auftritt, der musikalische Grenzen überschreitet, räumt am Ende sogar Stacheldraht aus dem Weg.
Aber das ist nicht politisch zu verstehen. Denn der Eurovision Song Contest ist nicht politisch, sagt die EBU. Und genau deshalb machen sich die Veranstalter Gedanken über die Fahnen, die in der Halle geschwenkt werden dürfen, rücken in einem unglücklich formulierten internen Papier die walisische Fahne in die Nähe der Daesch-Fahne des sogenannten islamischen Staates und müssen am Ende kleinlaut zurückrudern, so dass der rote Drache auf weiß-grünem Grund auch in diesem Jahr zu sehen ist. Und weil der ESC nicht politisch ist, laufen zahlreiche russische Journalisten in Stockholm mit dem Sankt-Georgs-Band durch die Gegend, um deutlich zu machen, dass Russland in der Ostukraine und auf der Krim richtig agiert, ohne dass irgendjemand etwas dazu sagt.
Christliche Anklänge in der Musik
Nebenbei geht es dann doch auch um Musik, und schon die Titel der Songs aus dem ersten Halbfinale lassen eine gewisse Sehnsucht nach Spiritualität erkennen. Mit einem christlichen Auge fallen Lidia Isac aus Moldawien und Nina Kraljic aus Kroatien auf, die beide über das Licht in der Welt singen: Isac über "Falling Stars" und Kraljic über ihr "Lighthouse", den Leuchtturm, der ihr den Weg weist.
Der Niederländer Douwe Bob und sein "Slow Down" erinnern dagegen eher in der Form an einen Gottesdienst: Wie in manchem Fürbittengebet gibt es kurz vor Schluss eine Pause zum Selberfüllen, aber anders als im Fürbittengebet weiß man hier praktischerweise, dass die Pause genau zehn Sekunden lang sein wird.
Auch die Liebe hat ihren Platz in den Liedern des ESC. Sie wird in "LoveWave" von Iveta Mukutschjan aus Armenien besungen. Das ist das älteste christliche Land der Welt, wie der geneigte Fan seit der armenischen Eurovisions-Premeire in Pressekonferenzen regelmäßig hören kann. "Ljubav je" bieten Ana, Dalal, Deen und Jasmin aus Bosnien als Botschaft an, "Liebe ist alles", was man im Refrain sofort unterschreiben möchte - und "Liebe ist ein Teufelskreis", worüber man vielleicht erst nochmal genauer nachdenken will.
Die Tschechin Gabriela Guncikova singt "I Stand", das hat aber wenig mit dem mutmaßlichen lutherischen "Hier steh' ich und kann nicht anders" zu tun, hier geht es eher um eine sehr irdische Beziehung. Und auch wenn der Titel etwas anderes verspricht: Auch das Wunder, das Samra aus Aserbaidschan in "Miracle" verlangt, gilt irdischen Beziehungen.
Richtig christlich wird es dann aber doch noch, zumindest vom Titel her, mit Ira Losca aus Malta. Ihr Lied heißt "Walk on Water" und hat nicht nur die klarste christliche Andeutung im Titel "Walk on Water", sondern auch am Ende des Liedes noch das eigene Gesicht in einer Grabtuch-von-Turin-ähnlichen Inszenierung an der Wand. Und dennoch hieß aus ihrem Umfeld in Stockholm: Nein, christliche Implikationen habe das Lied nicht, es gehe nur darum, dass Unmögliche zu erreichen. Na, ja, wenn's mehr nicht ist.