Khobor lebt mit seiner Frau und drei Kindern in einem Dorf in Bangladesch. Ihr kleines, bescheidenes Haus besteht aus einem Lehmfußboden, Wänden aus Stroh und einem Wellblechdach. Eine Kuh ist der ganze Besitz des schlanken, muskulösen Landarbeiters. Jetzt hat der 35-jährige Angst, nicht mehr lange für seine Frau und Kinder sorgen zu können. Auf seiner Brust und seinen Füßen hat Khobor nämlich dunkle Flecken entdeckt. Der junge Mann weiß, was das bedeutet: Er ist mit Arsen vergiftet. Vor drei Jahren ist seine Mutter und vor einem Jahr sein Vater gestorben. Beide hatten die gleichen Symptome.
Das Schicksal von Khobor ist eines von vielen, zumeist armer Bangladescher, die die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in ihrem jüngst erschienen Report "Vetternwirtschaft und Schlendrian: Das Versagen zur Lösung des Arsenproblems im Trinkwasser der Armen von Bangladesch" schildert. Laut HRW haben mehr als 20 Millionen Bangladescher keine andere Wahl, als arsenverseuchtes Wasser zu trinken.
In manchen wissenschaftlichen Abhandlungen ist gar von 50 - 70 Millionen Menschen die Rede. In einer im Dezember 2015 im Wissenschaftsverlag Springer veröffentlichten Studie sehen Wissenschaftler aus Indien und Bangladesch das Arsen im Wasser als das "größte Gesundheitsproblem in der Geschichte der Menschheit".
Die unterschiedlichen Zahlen hängen davon ab, welche Grenzwerte für Arsen im Wasser herangezogen werden und von welcher Region die Rede ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat den für Menschen unbedenklichen Grenzwert von Arsen im Wasser auf 10 Mikrogramm (µg) pro Liter festgelegt. Das Gesundheitsministerium in Bangladesch hingegen auf 50 µg pro Liter. Betroffen ist das Deltasystem von Bengalen, wo die großen Flüsse Ganges, Brahmaputra und Meghna ins Meer münden. In diesem Delta liegt auch der bevölkerungsreiche indische Bundesstaat Westbengalen.
Arsen im Grundwasser findet sich in unterschiedlichen Konzentrationen überall auf der Welt, auch in Deutschland. Aber kaum irgendwo sonst ist das Wasser so stark arsenhaltig wie in Bangladesch. An machen Stellen wird eine Arsen-Konzentrationen von bis zu 800 µg/Liter gemessen.
Der geogene Ursprung ist die derzeit gängigste wissenschaftliche Theorie für die Arsenbelastung in Bangladesch. Durch den Zusammenstoß der indischen mit der eurasischen Erdplatte wächst – bis heute – die Bergkette des Himalaja in den Himmel. Infolge dieses tektonischen Prozesses im Verein mit Magmatismus entsteht das Arsen. Das Gift wird dann mit den Sedimenten von den Flüssen in die Bengalische Delta-Ebene transportiert und dort durch ein spezifisches biogeochemisches Umfeld aus seinem festen Zustand aufgelöst. Wie genau jedoch der Mechanismus der Mobilisation aus dem Sediment sowie die Anreicherung und der Schadstofftransport im Grundwasser wirkt, ist noch unklar.
Neue Brunnen haben das Problem erst hervorgebracht
Das Arsen im Grundwasser von Bangladesch ist also ein jahrtausendealtes Phänomen. Als Problem für die Menschen ist es jedoch neu und paradoxerweise durch eine Maßnahme offenkundig geworden, die eigentlich die Lebensqualität der Armen dramatisch verbessern sollte.
Nach der Staatsgründung von Bangladesch 1971 wurden in einem gigantischen, von der Weltbank und anderen internationalen Gebern geförderten Programm Brunnen gebohrt, um den Menschen Zugang zu sauberem Wasser zu ermöglichen. Bis dahin waren Mensch und Vieh auf verdrecktes Wasser aus Tümpeln, Teichen und Flüssen angewiesen. Durchfall- und Choleraepidemien forderten tausende Menschenleben.
Privatpumpen über politische Beziehungen
Die neuen Brunnen zapften in geringer Tiefe das Grundwasser an und genau dieses ist besonders stark mit dem Arsen vergiftet. Das farblose, geschmacklose und geruchlose Arsen aber macht kränker als früher das dreckige Wasser. Das krebserregende Gift wirkt schleichend, schädigt Haut, Herz und Lunge.
Abhilfe kann der Bau von Tiefbrunnen schaffen. Die Regierung von Bangladesch aber ignoriert das Problem weitgehend und wenn die Behörden doch aktiv werden, haben Arme wie Khobor oft nichts davon. "Die Standorte neuer Pumpen werden letztlich nach politischen Kriterien bestimmt", sagte ein Behördenvertreter im Schutz der Anonymität gegenüber HRW. Manche lassen gar eine Pumpe nur in ihrem Haus installieren. "Nur die sechs Menschen in meinem Haushalt trinken davon. Andere lassen wir nicht davon trinken", sagt einer gegenüber HRW und erzählt, dass die Behörden über die Parteibeziehungen seines Schwiegervaters die Pumpe in seinem Haus installiert haben.
Hilfe kommt von nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), aber deren Projekte wirken angesichts des Ausmaßes der Katastrophe wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. "Wir haben eine nationale Politik zur Lösung des Arsenproblems", sagt Zahed Masud. Dann fügt der Arzt und Geschäftsführer der Hilfsorganisation AITAM in Dhaka, einer Partnerorganisation von Brot für die Welt, hinzu: "Aber wird diese Politik in die Praxis umgesetzt? Auf jeden Fall nicht auf eine richtige Art und Weise." Es gehe nicht nur darum, tiefe Brunnen zu bohren. Von gleicher Wichtigkeit sei auch die Verteilung der Brunnen und damit des Wassers. Die "örtlichen Politiker und reichen Leute" aber würden nur sich selbst, ihre Familien und ihre Unterstützer mit Tiefbrunnen versorgen. "Die Armen und mehr noch die Ärmsten der Armen bleiben außen vor", sagt Masud.
Noch dramatischer sei es um die medizinische Versorgung von Patienten mit akuter Arsenvergiftung bestellt, weiß der Arzt Masud. Offiziell sei die Behandlung von Menschen mit Arsenvergiftungen durch das staatliche Gesundheitssystem gewährleistet. Die Realität sieht anders aus. "In unseren Projektgebieten in Munshigonj und Narayongonj haben wir viele Patienten mit Arsenvergiftungen zu öffentlichen Gesundheitszentren geschickt. Sie kamen ohne Medikamente zurück. Zudem haben viele Ärzte keine Ahnung von Arsenvergiftungen."
Bedenkliche Arsenwerte in Kuhmilch
NGOs wie AITAM oder auch die Christian Commission for Development in Bangladesh (CCDB), ebenfalls ein Partner von Brot für die Welt, leisten, wozu sie ihm Rahmen ihrer Möglichkeiten in der Lage sind. Sie klären über die Gefahr von arsenverseuchtem Wasser auf, bauen sichere Brunnen, bieten medizinische Hilfe. Von großer Bedeutung sei zudem die Schaffung "alternativer Optionen", für giftfreies Wasser, betont Imran Kibria, Chefplaner der CCDB. "Wir haben vier Anlagen zur Reinigung des Wassers von Arsen gebaut. Diese Anlagen sind einfach zu bedienen. Jede kann rund um die Uhr 700 Liter Wasser pro Stunde liefern. Damit können 150 - 200 Familien mit Wasser versorgt werden."
Selbst wenn es gelänge, ganz Bangladesch mit Brunnen zum Pumpen von arsenfreiem Wasser zu versorgen, bliebe ein anderes Problem ungelöst - eines, von dem man nicht einmal genau weiß, in welchem Umfang es überhaupt existiert: Reis, Weizen und andere Feldfrüchte brauchen für ihr Wachstum Wasser. Vieh kann ohne Wasser nicht existieren. Wie sehr aber sind Reis, Weizen, Kartoffeln, Rüben und Gemüse mit Arsen belastet? Wieviel von dem Gift steckt im Fleisch und anderen tierischen Nahrungsprodukten? Indische Wissenschaftler haben bereits "bedenkliche" Arsenwerte in Kuhmilch festgestellt.
Ein amtlicher Test des Wassers aus der Pumpe von Khobor hat vor Jahren eine Arsenbelastung von 250 Mikrogramm Arsen pro Liter ergeben, das Fünffache des in Bangladesch geltenden Höchstwertes. Geschehen ist seitdem nichts. Khobor und seine Familie müssen weiter das Giftwasser trinken. Außer in der Regenzeit. Da fängt die Familie das vom Blechdach ihres Hauses ablaufende Regenwasser auf. Sie besitzen einen Tonkrug und einen Eimer. Darin können sie nach der Regenzeit noch für etwa eine Woche arsenfreies Wasser aufbewahren. Dann hat die Familie wieder keine andere Alternative als das Wasser aus dem arsenverseuchten Brunnen. Khobor weiß: "Das Wasser kann uns töten."