Recht haben, sagt Peter Röder, heiße nicht, dass man auch Recht bekomme. "Sagen wir mal, ein Kind wird auffällig, weil es die Hilfen, die ihm zustehen, nicht bekommt. Irgendwann stößt es dann ein anderes Kind die Treppe herunter, zündet die Schule an oder bedroht die Lehrerin mit einem Messer." Diesem Kind sei vielleicht nicht ordentlich geholfen worden, "kein Geld", habe es vielleicht wieder einmal geheißen. Selbst wenn ein Arzt die Auffälligkeit eines Kindes attestiere und eine Maßnahme empfehle, bedeute das noch nicht, dass ein Jugendamt der Empfehlung folge. Die Eltern stünden dann auf verlorenem Posten. Das Kind auch. Übertreibt Peter Röder? Er ist Pfarrer und Referent für Jugendhilfe und Kinderschutz der Diakonie Hessen. Er kennt viele Probleme aus eigener Anschauung. Die deutschen Jugendämter sind oft überlastet - nicht nur angesichts der hohen Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, die in den vergangenen zwei Jahren hinzugekommen sind.
Die Jugendämter machten in der Regel gute Arbeit, stünden jedoch mit dem Rücken zur Wand, da die chronisch klammen Städte und Landkreise sie finanzierten, sagt Peter Röder. Er ist überzeugt, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland mehr Recht bekommen müssen und dass sie dafür kompetente Unterstützung brauchen. Eine Lösung dafür sei die Empfehlung, die der Runde Tisch Heimerziehung in seinem Abschlussbericht 2011 gegeben hatte: unabhängige Beschwerdestellen, so genannte Ombudsstellen, sollen bundesweit in der Kinder- und Jugendhilfe eingerichtet werden. Peter Röder hat sich für die Diakonie und gemeinsam mit der Caritas in Hessen für eine solche Ombudsstelle stark gemacht. Diese unabhängigen Beschwerdestellen sollen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, die Ämter aus Personal- oder Geldmangel nicht selten verwehren oder schwer machen.
Zwischen Kindern, Eltern und Jugendamt vermitteln
Peter Röder glaubt, dass der Ruck ins Extreme, in Verweigerung und Radikalität nach links oder rechts, hin zu Pegida oder AfD, ein hausgemachtes Problem ist. "Unser System produziert Opfer, wenn es den Menschen ihre Rechte verwehrt."
Im Jahr 2012 nahm die erste "Ombudsstelle für Kinder- und Jugendrechte in Hessen" ihre Arbeit auf - eine Juristin in Vollzeit und eine Sachbearbeiterin mit einer halben Stelle haben seitdem 250 Fälle bearbeitet. Zudem bearbeiten mittlerweile zwölf Ehrenamtliche die Fälle in Absprache mit der Juristin. Nur zwei dieser 250 Fälle seien vor Gericht gelandet - in allen anderen hätten sich die Betroffenen außergerichtlich geeinigt.
Die Klienten der ersten hessischen Ombudsstelle für Kinder- und Jugendrechte sind sowohl Kinder und Jugendliche aus Einrichtungen der Jugendhilfe, wie auch Kinder und ihre Familien, denen möglicherweise Rechte des Sozialgesetzbuches VIII verwehrt werden. Die Ombudsstelle soll zwischen Kindern, Eltern, Vormund, Einrichtungen und Jugendamt vermitteln, wenn sie sich uneinig sind, sich falsch behandelt fühlen oder Ansprüche verschleppt zu werden scheinen.
Die hessische Ombudsstelle hat mit ihrer Mediation vermutlich einige Gerichtsverfahren überflüssig gemacht. Nun hat sich aus dem Projekt "Ombudsstelle" im März 2016 ein Verein gegründet, den neben Diakonie und Caritas alle weiteren Verbände der Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Hessen, der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste, der Kinderschutzbund Landesverband Hessen und die Aktion Salomon für Pflegekinder tragen.
Keine unabhängige Finanzierung in Sicht
Ein Koalitionspartner, der die Ombudsstelle auf unabhängige Beine stellen könnte, hält sich noch immer zurück: die hessische Landesregierung. Im Jahr 2013 hatte sie in ihrem schwarz-grünen Koalitionsvertrag zwar vereinbart, zu prüfen, wie "das Land Hessen die unabhängige Beschwerdestelle für Jugendliche (Ombudsstelle für Kinder – und Jugendrechte in Hessen) unterstützen kann". Doch zu Taten sei es bisher nicht gekommen, sagt Peter Röder.
Im April 2016 antwortet das hessische Familienministerium auf Anfrage von evangelisch.de: "Eine finanzielle Förderung ist derzeit nicht vorgesehen." Gleichzeitig kritisiere die Landesregierung die Ombudsstelle als zu einseitig, da siesich zu sehr auf junge Menschen in Jugendhilfesystemen fokusiere und Diakonie und der Caritas selbst Jugendhilfeträger sind sagt Peter Röder. Obwohl sich das ökumenische Projekt mittlerweile säkulare Partner gesucht hat - auch um den Verdacht von Eigeninteressen zu entkräften. Bisher finanzierte die Stiftung Aktion Mensch das Projekt mit und gibt für den nun entstandenen Verein Geld bis Mai 2017. "Der nächste Schritt in die Unabhängigkeit ist eine gesicherte Finanzierung, die die hessische Landesregierung jedoch verwehrt." Dennoch ist Peter Röder sicher, dass die Ombudsstelle jetzt schon unabhängig arbeitet: "Die Jugendlichen und Kinder können über die Ombudsstelle Einrichtungen der Diakonie und der Caritas anklagen, wenn es nötig ist."
Obwohl also der Runde Tisch Heimerziehung und auch die Evaluation des Bundeskinderschutzgesetztes unabhängige Ombudsstellen für Kinder und Jugendliche in ganz Deutschland gefordert hätten, sei bundesweit noch sehr wenig passiert, sagt Peter Röder. Für Diakonie und Caritas sei der Abschlussbericht des Runden Tisches jedoch Mahnung und Ansporn, jungen Menschen in Zukunft besser zuzuhören und sich anwaltschaftlich für ihre Rechte einzusetzen. Das gebieten auch die Erfahrungen mit Missbrauch in den eigenen Einrichtungen in den 1950er und 1960er Jahren.
In den Jugendhilfeeinrichtungen selbst gibt es schon vielfach ein Beschwerdemanagement und Heimräte, in denen Jugendliche sich selbst organisieren und ihre Anliegen gegenüber der Leitung vorbringen können. Zu den zentralen Treffen der hessischen Heimräte, die die Landesregierung finanziert, ist die Juristin der Ombudsstelle regelmäßig geladen. Denn ein Ziel der Ombudsstelle soll neben der juristischen Beratung auch die Vernetzung der Kinder und Jugendlichen mit Selbsthilfegruppen sein.
Peter Röder weiß von vielen Jugendlichen, die von Kostenträgern empfohlen bekämen, nach ihrem 18. Geburtstag auf ihren Heimplatz zu verzichten. "Denen wird dann gesagt: Wenn du ausziehst, kontrolliert keiner mehr, ob du dein Zimmer aufräumst, dann kannst du machen, was du willst." Das Ergebnis sei, dass vermehrt 18-Jährige in der Obdachlosigkeit landen würden. Für einige bietet deshalb der Verein Care Leaver mit seinem bundesweiten Netzwerk Hilfe. Er ist eine Selbsthilfe von ehemaligen Heimkindern für Jugendliche, die den Sprung aus den Heimen in die Selbstständigkeit schaffen müssen. Jugendliche wissen nicht immer, dass sie über ihre Volljährigkeit hinweg Anspruch auf Jugendhilfe haben; so ist es aber festgeschrieben im SGB VIII.
Dass sie ihre Rechte nicht bekommen, treibe junge Menschen in die Armut und die Frustration. Die Ombudsstelle will das beheben helfen. Ein Blick auf die neueste UNICEF-Studie aus dem April 2016 über die Ungleichheit von Kindern in Industrieländern zeigt, wie nötig Deutschland es hat, für die Rechte der Kinder etwas zu tun. Runde Tische reichen nicht aus. Auch reiche es nicht, die UN-Kinderrechtskonvention lediglich zu unterschreiben. Sie ist schon seit 1992 für Deutschland in Kraft. "Wir müssen die Kinderrechte auch leben", sagt Peter Röder.