"Sie sehen das Gotische Haus Römer 2-4-6, einer der ältesten und baugeschichtlich interessantesten Fachwerkbauten in Deutschland. Der älteste Teil stammt aus dem Jahr 1289." Die japanische Besuchergruppe zückt die Kameras. Was mancher Fremdenführer in Limburg nicht vermutet: Hinter dem reich gegliederten Fachwerk könnten die Gäste aus Fernost Chormusik aus ihrer Heimat finden. Dort steht seit 20 Jahren eine Sammlung von jetzt mehr als 300.000 Chorwerken aus allen Epochen und Ländern der Erde.
Hier ist der Sitz des Deutschen Centrums für Chormusik e.V. - kein verstaubtes Archiv für vergeistigte Musiker, sondern eine sprudelnde Noten-Quelle, dank Manfred Bender, dem Gründer und Leiter des Centrums. Der studierte Naturwissenschaftler erinnert sich: "Alles begann 1983 mit einem Ordner in meinem Schlafzimmer in Niederselters."
"Ich habe mich oft darüber geärgert, dass ich mir nirgendwo einen Überblick über sämtliche verfügbaren Chorwerke verschaffen konnte. Damals gab es kein entsprechendes Verzeichnis", erinnert sich der 67-Jährige, der schon als Student Chöre leitete. Von seinem Honorar kaufte er immer neue Notenblätter und begann sie zu sammeln. "Das Notensammeln hat mich so fasziniert, dass ich mein ganzes Leben der Chormusik verschrieben habe", sagt Bender.
Es gibt 60.000 Chöre in Deutschland, knapp zwei Millionen Menschen singen, brauchen Noten. Benders Erfahrung: "Wenn man ein bestimmtes Chorwerk haben will, kann man es oft nicht sofort oder gar nicht finden. Schließlich gibt es etwa eine Million Werke, und jeden Monat kommen 1.000 neue Kompositionen hinzu. "Man müsste die Kataloge von 2.000 Musikverlagen durchblättern, die unzähligen Privatverleger nicht mitgerechnet."
Dass die Schatztruhe internationaler Chorliteratur seit zwei Jahrzehnten in Limburg beheimatet ist und von dem gemeinnützigen Verein "Deutsches Centrum für Chormusik" getragen wird, ist vor allem Klaus Knubben zu verdanken, dem langjährigen Leiter der Limburger Domsingknaben. Auf seine Vermittlung stellte die Stadt 400 Quadratmeter auf drei der fünf Etagen des 1986 im Schatten des Doms gerade umfangreich sanierten Gotischen Hallenhauses zur Verfügung.
An dieser zentralen Schnittstelle treffen Chorleiter und Komponisten zusammen. Die Nutzer des "Centrums für Chormusik" haben sich zu einem Chorleiter-Forum mit 750 Mitgliedern etabliert. Sie dürfen die Noten einsehen und auf einem der bereitstehenden Tasteninstrumente anspielen. Wer hören will, wie die ausgewählte Musik von einem Chor gesungen klingt, kann auf die umfangreiche Sammlung von 2.000 Tonträgern zurückgreifen.
Sprudelnde Noten-Quelle: Vom Volkslied bis zum Oratorium
Noten werden in dem Centrum allerdings nicht verkauft. "Auch das Kopieren ist Diebstahl und steht unter hohen Strafen; denn das wäre der Tod der Verlage", sagt Bender, der mit seinem Verein Kontakte zu 2.000 Verlagen pflegt. Viele davon stellen dem Centrum Neuerscheinungen kostenlos zur Verfügung. "Sind Noten nicht mehr lieferbar, so holen wir bei den Verlagen die Genehmigung ein, sie gegen Gebühr kopieren zu dürfen." Das Limburger Archiv hat den Ruf einer "Arche Noah der Chormusik".
Das übersichtlich geordnete, breitgefächerte Repertoire reicht vom schlichten Volkslied bis zum Oratorium. Im Limburger Römer kann man beispielsweise das Requiem zum Tod von John F. Kennedy des deutschen Komponisten Robert Carl (1902-1987) finden, das 1963 in Washington zur Beerdigung aufgeführt wurde. Oder die "Vox humana" des 1988 verstorbenen polnischen Komponisten Thomasz Sikovski: ein Stück für 80 verschiedene Stimmen und 22 Instrumente. Stolz ist Bender auf seinen Querschnitt ungarischer Chormusik. Als der Eiserne Vorhang fiel, ließ er sich eine Woche lang in das Lager eines großen Budapester Musikgeschäfts einschließen, sichtete den gesamten Bestand und rettete einzigartige Partituren.
In diesen Wochen erreichte Manfred Bender ein Paket mit 200 Chorwerken aus den USA, darunter türkische und muslimische Kompositionen. Er fand vier A-cappella-Musiken aus der zerbombten nordsyrischen Stadt Aleppo. Bender meint: "Vielleicht findet sich ein Chor, der diese Stücke einstudieren möchte, um sie syrischen Flüchtlingen vorzutragen. Musik kann Brücken der Verständigung schlagen."