Fast sieben Millionen Menschen interessierten sich innerhalb weniger Wochen für seine Ehe. Selbst für YouTube ist es eine außergewöhnliche Zahl an Klicks. Der 96-jährige Fred schrieb ein Liebeslied für seine verstorbene Frau Lorraine und besingt darin 72 wunderbare gemeinsame Jahre. Rosarote Wolken segeln über den azurblauen Himmel der Liebe. Ein zuckersüßer Traum, immer wieder schön und voller Hoffnung für alle Verliebten…
Szenenwechsel: Für Anna und Sven scheinen im Moment selbst 72 gemeinsame Stunden zu lang. Sie tun sich schwer miteinander, schon seit geraumer Zeit. Nun ist der Leidensdruck so groß, dass sie eine systemische Beratung durch mich wünschen. Schon nach wenigen Wochen sind zu ihrer großen Freude zahlreiche Knoten geplatzt. Die Lösung besteht in Annas veränderter Wahrnehmung ihrer Rolle innerhalb der Ehe und der Familie. Wir haben gemeinsam die Fesseln unbewusster Glaubenssätze gesprengt. Überzeugungen wie "für eine gute Mutter sind die Kinder das Wichtigste", "ein Ehepaar weiß alles über einander", und vor allem Annas Richtschwert über sich selbst: "Ich bin eigentlich ziemlich dumm" schlummerten als Giftmüll unter der Oberfläche.
Im Coaching machen wir diese Sätze sichtbar und erkennen, wovor sie uns schützen wollen. "Ich bin dumm" meint vielleicht: "Sei vorsichtig. Hochmut kommt vor dem Fall. Sei zufrieden mit dem, was du hast." Wir behandeln all diese Überzeugungen mit Respekt. Sie abzuschneiden oder für bescheuert zu erklären hieße, die Absicht, die hinter ihnen steckt, zu missachten. So würden wir die Chance auf Selbsterkenntnis und Weiterentwicklung kappen. Lieber überlegen wir, was denn konkret das Selbstvertrauen stärkt und welche Schritte nötig, möglich und umsetzbar sind. Wir fragen: Was genau braucht eine neue Art der (Selbst-) Wahrnehmung?
Acht Monate später: Die Rollen sind tatsächlich neu definiert. Nein, nicht nur Annas. Auch Sven hat sein Frauen- und Männerbild neu durchdacht. Im Bereich Unterstützung im Haushalt durfte er seinen Einsatzbereich ohne größere Verletzungen des männlichen Egos erweitern. Doch, doch, das geht. Anna, Krankenpflegerin mit nun verändertem Selbstbild, macht eine Ausbildung im palliativen Bereich und erkennt ihre Fähigkeiten endlich als vollwertig an. Der Haushalt ist neu organisiert. Humor und etwas mehr Großzügigkeit ersetzen ab sofort das Streben nach Perfektion und Groll. Alles gut? Das bleibt gelassen abzuwarten. In jedem Fall hat dieses Paar die bisher größte Herausforderung in ihrer neunjährigen Ehe erfolgreich miteinander gemeistert und sich gemeinsam weiterentwickelt. Das ist nun wirklich ein Grund zum Feiern.
Bei Sabine und Jörg dagegen gibt es noch gar nichts zu feiern. Die beiden sind knapp 20 Jahre miteinander verheiratet und seitdem Jörg als Frührentner zu Hause ist, wird die Situation immer unangenehmer. Die beiden halbwüchsigen Pubertierenden wären alleine schon Herausforderung genug. Dazu kommt eine pflegebedürftige Mutter und beruflicher Stress für Sabine. Hier sind die Familienbande verstrickt bis verfilzt, die Verletzungen zahlreich, und eine ernst zu nehmende Lösung liegt weit außerhalb der üblichen Tipps wie "geht doch mal schön zusammen essen und redet offen". Sabine denkt an Scheidung. Leise ist die Stimme in ihr, unüberhörbar dennoch.
Toleranz kommt von "tolerare" und d.h. "erleiden/erdulden". Diese ursprüngliche Bedeutung wird gerne mal übersehen. Ja, Toleranz ist anstrengend, manchmal nervig bis zur Schmerzgrenze. "Seid doch einfach mal ein bisschen toleranter, akzeptiert die anderen doch so, wie sie sind" scheint oft die Antwort, die sozialpädagogische Friedenslösung für alle zwischenmenschlichen Probleme. Das ist leider allzu oft ein Trugschluss. Mit der Forderung nach "mehr Toleranz von allen für alle, oder so" ist der schwarze Peter ohne konkrete Ansätze in die Mitte des gemeinsamen Spiels geschoben und da mag er nun liegen. Niemand nimmt ihn freiwillig auf, denn Lippenbekenntnisse alleine machen noch kein gutes Miteinander. Im Gegenteil, sie schüren Frust und Enttäuschung, wenn keine konkreten Taten folgen. Überraschung: Bequemlichkeit und Gewohnheit sind die Feinde eines lebendigen Miteinanders.
Da kommt ein "weites Herz" gerade recht. Menschen mit weiten Herzen sind voller Vertrauen. Sie schauen mutig auf die eigenen Bedürfnisse. Sie trauen sich, über den eigenen Tellerrand zu blicken und andere Herzen wahrzunehmen, auch ohne sofort in die Verantwortung zu springen. Der Selbstwert eines weiten Herzens gestattet sowohl Respekt als auch Distanz. Es darf zuversichtlich abwarten und den richtigen Moment erspüren. Wann ist Zeit zu helfen? Wann ist die Zeit, konsequent "nein" zu sagen, damit andere endlich in ihre eigene Kraft kommen? Wann ist die Zeit, neue Wege zu suchen und zu finden? Weite Herzen sind tapfer genug, unsicher und nervös zu sein, weil sie es sich gestatten.
Manchmal stirbt eine Liebe, einfach so
Zurück zu Sabine: Sie braucht nur zwei Aufstellungen mit mir. Die eine bezieht sich auf die Familienbande, die zweite auf ihr inneres Team. Danach steht ihre Entscheidung und wir suchen ihren neuen Weg. Sie liebt ihre Herzensmenschen und ist bereit zu kämpfen. "Raus aus den Konventionen, bitte!" Sie brauchen alle miteinander eine neue Struktur, weniger Nähe, jedes Mitglied eine Rückzugsmöglichkeit und mehr Respekt voreinander. Ja, weniger Familie, mehr Wohngemeinschaft. Sie will es versuchen.
Um es kurz zu machen: Es ist ein längerer Weg mit Tränen, zahlreichen Gesprächen, auch Streit. Getrennte Betten für die Eheleute, ein (kleines) Zimmer für jeden, die Küche wird (auch) Wohnzimmer, es gibt neue Rechte und Pflichten für alle. Konsequenzen bei Unzuverlässigkeit. Umdenken auf allen Ebenen, gegen alle Widerstände und eigene Bequemlichkeiten. Eine Familie entdeckt sich neu. Weite Herzen trauen sich auch mal unkonventionelle Lösungen. Die sind häufig anstrengend - und lohnen sich!
In einigen Konstellationen reicht auch das nicht. Manchmal stirbt eine Liebe, einfach so. Niemand ist schuldig, niemand hat etwas falsch gemacht. Es sollte nicht sein. Es gibt nur noch eine endgültige Lösung: Pläne, Ziele, Hoffnungen loszulassen. Sich frei machen von allen Erwartungen, den anderen frei geben in Respekt und Achtung. Es ist unsäglich schwer, traurig und belastend. Aber es gehört zur Palette des bunten Lebens, auch die Grautöne wollen ein Da- sein.
Herzen, die sich weiten und mutig sind
Weite Herzen halten das aus. Sie vertrauen auf die Krafttankstelle tief in ihnen. Die ständige Verbindung zum größeren Sinn, der hinter, über, unter und vor allem steht. Weite Herzen wissen das intuitiv und sie sind mutig genug, sich klein zu fühlen und fallen zu lassen. Sie vertrauen auf Gott. Das ist eine große Sache für einen kleinen Menschen.
Weite Herzen lassen kleinliche Kämpfe um Recht, Stolz und Macht. Sie gestatten sich Menschlichkeit, gerade weil es so weh tut, die eigenen Erwartungen loszulassen, sich Fehler einzugestehen oder auch nur einfach Ruhe zu geben. Große Herzen suchen schon mal Hilfe und sie weinen, klagen und leiden. Sie bleiben in der Liebe, ohne Kitsch, ohne rosa Wolken vor blauem Himmel. Weite Herzen ohne Enge sind in der Ewigkeit zu Hause und sie trauen sich, daran zu glauben.
Große Herausforderungen stehen an, überall, für uns alle. Wo und in welcher Situation ihr auch gerade seid und welche Aufgaben auch vor euch liegen mögen: Ich wünsche euch und uns allen Herzen, die sich weiten und mutig sind. Bis wir gemeinsam die ewige, liebende und größte Seele berühren…