Fast täglich wundern sich Touristen und Gäste. Da huscht ein Mann durch die Gassen Wittenbergs, der genauso aussieht wie Martin Luther: mit Doktorenhut, im Gelehrtentalar – und dann diese laute Stimme. "Gott zum Gruße", ruft er jedem entgegen, dem er begegnet. Luther lebt, oder?
Heute steht er im "Luther-Garten" nahe der Altstadt. Ein Journalist hält ihm ein Mikrofon vor den Mund, Luther möge doch bitte mal sagen, was er eigentlich davon hält, dass Christen aus aller Welt hier einen Baum pflanzen. Und ob er überhaupt wisse, wo zum Beispiel Indien, Amerika und Chile liegen? "Ich hab's nie gehört", sagt Luther etwas zögerlich, "aber wenn da auch Menschen wohnen, dann wäre es richtig, dass man das Evangelium zu ihnen bringt."
Unter dem Luthertalar steckt ein alteingesessener Wittenberger: Bernhard Naumann. Im richtigen Beruf ist er Kirchenmeister der Stadtkirche. Aber Martin Luther, den kennt er so gut wie kaum ein anderer. Der ist sein zweites Ich. Dem Journalisten erklärt er: Welterfahren war Martin Luther nicht. Die Landesgrenzen seiner Heimat Sachsen hat er nur selten überschritten; die weiteste Reise führte ihn 1510 über die Alpen nach Rom.
Trotzdem hatte – und hat – das, was der aufmüpfige Mönch im Jahr 1517 in Wittenberg mit viel Leidenschaft und 95 Thesen in Gang setzte, globale Auswirkungen. Heute fühlen sich über 400 Millionen Menschen weltweit den klassischen Kirchen der Reformation zugehörig, den Lutheranern und den Reformierten. Hinzu kommen rund 600 Millionen Pfingstler, deren Glaube ebenfalls in der Reformationszeit wurzelt.
Nicht alle werden kommen am 28. Mai 2017, zum großen Abschlussgottesdienst des Kirchentages auf den Elbwiesen. Aber schon ziemlich viele, bis zu 300.000 Menschen könnten es werden an diesem Wochenende. Wie die Menschenmassen durch das kleine Wittenberg geschleust werden sollen, fragen sich die Einheimischen besorgt, hätte man das denn nicht auch in Berlin machen können? Nein, das gehöre im Gedenkjahr nun mal in die Lutherstadt, argumentierten die Veranstalter nach einigem Überlegen. Aber was, wenn die Elbe Hochwasser führt? Die Organisatoren beruhigen. Sie sind erfahren in Sachen Großveranstaltungen. Und erklären den Wittenbergern: Kirchentag und der "Reformationssommer 2017" bringen viel Geld in die Stadt, zusätzlich viele Arbeitsplätze.
Und viel Ruhm und Ehr'. Denn im heutigen Wittenberg wird man sich der weltgeschichtlichen Schlüsselfunktion mehr und mehr bewusst. Schon jetzt streifen Touristen aller Herren Länder durch Wittenberg und besichtigen die Stätten der Reformation. Die Stadtkirche, in der Luther erstmals in deutscher Sprache predigte und in der er heiratete. Die Schlosskirche, in der er seine letzte Ruhe fand. Die Universität, an der er lehrte. Das Haus des Lutherfreundes und Mitreformators Philipp Melanchthon. Das erste evangelische Pfarrhaus der Geschichte. Die Ateliers des Malers Lucas Cranach, der der Reformation ein Gesicht gab. Und das Haus, in dem Martin Luther lebte und arbeitete, mit Gott haderte, seinen Frieden mit ihm fand und in dem er mit Katharina von Bora eine Familie gründete.
In dem ehemaligen Augustinerkloster, das nun "Lutherhaus" heißt, arbeitet heute Stefan Rhein. Er leitet die "Stiftung Luthergedenkstätten" und kommt mit vielen Touristen zusammen, die das Museum besichtigen. Er trifft Besucher aus Südkorea und Skandinavien, aus den USA und Osteuropa. Was die hier suchen? "Ihre geistigen Wurzeln", sagt Rhein. "Es sind oft sehr emotionale Besuche. Sie singen in der Lutherstube, sie atmen Luthers Luft. Sie lassen sich berühren. Es geht um ihre Wurzeln, Wittenberg ist für sie kein Geschichtsausflug, sondern etwas sehr Persönliches."
Wittenberg empfängt die vielen Gäste wie eine Bilderbuchstadt. In der Hauptstraße, die den Ort durchzieht, und am Marktplatz sind die alten Häuser frisch und behutsam saniert worden. Der Geist der Geschichte ist gegenwärtig, vom Mittelalter bis in die jüngste DDR-Vergangenheit. Das Renaissance-Rathaus und prächtige Jugendstilhäuser sind steinerne Zeugen.
Nicht nur das Stadtpanorama lockt Gäste aus der Welt her. Stefan Rhein nennt einen weiteren Grund: "Die Menschen kommen, weil sie dankbar sind gegenüber Luther und der Reformation, dankbar für die ja auch ganz persönliche Erneuerung des Lebens. Man spürt oft, dass die Botschaft der Freiheit in diesen Ländern noch einen viel tieferen Sinn hat: Befreiung von Standesschranken. Befreiung auch zur eigenen Sprache." Ein Ausflug nach Wittenberg sei für viele ausländische Gruppen "wie eine Pilgerfahrt. In Wittenberg kommen Glaube und Geschichte zusammen."
In Wittenberg trifft sich die Welt
Von hier aus sprach sich damals die evangelische Botschaft der "Freiheit eines Christenmenschen" in Windeseile in ganz Europa herum und traf auf die große Sehnsucht nach dem Ende der Bevormundung durch Fürsten und Kleriker. Wie das gehen konnte? "Wittenberg war eine internationale Stadt", erklärt Stefan Rhein, "an keiner deutschen Universität studierten so viele Ausländer wie hier. Melanchthon schrieb einmal, dass an seinem Tisch elf verschiedene Sprachen erklangen: Franzosen, Italiener, viele Skandinavier, Ungarn. Sogar ein Perser war hier zu Gast."
Heute trifft sich die Welt wieder in Wittenberg. Das Besucherbuch des Lutherhauses zeigt Einträge aus Madagaskar und Hongkong, aus Südkorea und Lateinamerika. Wittenberg ist Weltbürgerin geworden: Dieser Satz wird häufig zitiert und bringt das Geschehen auf den Punkt. Es gibt Tage, an denen Menschen vieler Hautfarben durch die Straßen schlendern.
Und manchmal singen Jugendgruppen sogar "Ein feste Burg ist unser Gott" auf fremden Sprachen: auf Filipino und Tamil, Koreanisch, Burmesisch und Tok Pisin.
Luther würde es vermutlich freuen, dass sein Gassenhauer des Glaubens weltweit so beliebt ist und Menschen Halt gibt. "Mir soll es recht sein, wenn sie herkommen nach Wittenberg und ihre verschiedenen Erfahrungen mitbringen", sagt Luther-Double Naumann dem Journalisten ins Mikrofon, "ein paar Dinge gibt‘s, die müssen sein, aber ansonsten: Je bunter und je vielfältiger die Stimmen sind, die den Herrn loben, desto mehr wird er sich freuen. Des bin ich sicher."