"Wir versuchen immer ein bisschen abzuwechseln zwischen der Richtung der Verse", sagt Wolfang Baur vom katholischen Bibelwerk, Vorsitzender der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen, die die Losungen für jedes Jahr auswählt. "2015 hatten wir einen ermahnenden Vers, 2016 einen erbaulichen, aufmunternden." Für das neue Jahr also eine Portion Trost von Gott.
Der Vers stammt aus dem dritten Teil des Jesajabuches, dessen Autor Tritojesaja genannt wird – er ist nicht zugleich Autor der beiden ersten Jesaja-Teile. Tritojesaja (Kapitel 56-66) spricht zum Volk Israel nach dessen Rückkehr aus dem babylonischen Exil in die alte Heimat. Das Volk hatte nach dem Exil eine Heilszeit erwartet, doch davon ist zunächst nichts zu bemerken, "…wir harren auf Recht, so ist's nicht da, auf Heil, so ist's ferne von uns" (Jesaja 59,11) klagen sie. Der Neuanfang gestaltet sich mühsam, die Gesellschaft ist gespalten und von Ungerechtigkeiten geprägt. Der Prophet verspricht nun dem Volk, dass die erwartete Heilszeit noch kommen wird – Voraussetzung ist aber, dass Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft aufhören.
Dieser Kontext darf heute ruhig mitgelesen werden mit der Jahreslosung, die sich ja an eine Gemeinschaft - "euch" - wendet: "Angesichts der aktuellen Diskussionen in Europa über Aufnahmequoten für Flüchtlinge, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen und den Bau von Zäunen innerhalb und außerhalb des Schengen-Raumes ist die Auswahl gerade dieses Verses als Jahreslosung 2016 geradezu prophetisch zu nennen", schreibt Pfarrerin Britta Jüngst in ihrer Bibelarbeit zu dem Vers. Auch Wolfgang Baur findet es immer wieder erstaunlich, dass die Verse, die drei Jahre im Voraus gewählt werden, plötzlich im richtigen Moment an die Reihe kommen. "Wir wussten damals noch nicht von der Flüchtlings-Problematik", sagt Baur, "aber der passt jetzt gut in die Zeit. Im Moment gibt es sehr viele Menschen in der Welt, die Trost brauchen und aufgebaut werden sollten."
"Ihn kleiner sein lassen, als er ist"
Der Vers spricht nicht nur ein Kollektiv, sondern auch einzelne Menschen an und wirkt beinahe intim: "Wie einen seine Mutter tröstet." Tritojesaja legt hier Gott Worte in den Mund, mit denen er sich selbst in eine Frauenrolle versetzt. Zwei Verse zuvor wird das Weibliche noch drastischer ausgemalt: "Nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes." Gott als Mutter? Das Bild kann zunächst irritieren. "Im Alten Testament wird Gott vielfach als der Harte, der Grausame, der Kämpfer gesehen", erläutert Wolfgang Baur, auch König, Herrscher oder Richter sind typische Männerrollen, "das Mütterliche ist aber ein wesentliches Attribut Gottes im Alten Testament." Gerade Jesaja habe sich "immer schon im Widerspruch befunden zu einer Gottesrede, die Gott auf nur ein Geschlecht, eine Dimension, ein Bild festlegen will", schreibt Britta Jüngst. "Jesaja kennt eine Fülle von Gottesbildern", zum Beispiel auch Vogelmutter (31, 5) oder Hebamme (66,9).
In anderen biblischen Texten ist der weibliche Aspekt Gottes kunstvoll verborgen: So steckt in dem hebräischen Wort für Barmherzigkeit oder Erbarmen, rachama, das Wort rächäm drin – und das bedeutet Gebärmutter. Die Barmherzigkeit Gottes kann also umschrieben werden als eine fürsorgende und Leben spendende Liebe, die den Menschen ganz umfängt, nährt und schützt. Wolfgang Baur sieht darin "das mütterliche Gefühl für den Menschen, den sie geboren hat". Auch im hebräischen Verb für trösten, nicham, schwingt der Aspekt von Nähe und Mitgefühl mit: Es bedeutet auch heftig atmen, tief seufzen. "Den andern auf- und durchatmen lassen", schlägt der Pfarrer und Direktor des Wuppertaler Johanneum, Burkhard Weber, in seiner Auslegung zur Jahreslosung vor, oder auch: "Dem anderen so nahe sein, das er meinen Atem spürt und ich seinen."
Wer ist dieser andere? Fast alle deutschen Übersetzungen lassen in Vers 13 ein Substantiv weg, das aber von Bedeutung sein könnte. Wörtlich steht im Hebräischen: "Wie einen Mann, den seine Mutter tröstet …". Natürlich kann "Mann" hier als "Mensch" gelesen werden – trotzdem ist klar: Da steht nicht etwa "Kind". Sondern derjenige, der Trost empfängt, ist ein erwachsener, vermeintlich starker und selbstsicherer Mensch, der "seinen Mann steht". Sollte der etwa Trost brauchen? Trost sei kein "Spezialthema für die ganz frühe Kindheitsphase und Sterben oder Trauern", schreibt die Pädagogin Martina Walter in einem Aufsatz zur Jahreslosung. "Not, Angst, Schmerz, Einsamkeit und andere Situationen, in denen wir uns nach Trost sehnen, sind … nicht auf die Extreme unserer Existenz beschränkt, sondern reichen mitten hinein in unseren konkreten Lebensalltag."
Wer getröstet wird, darf wieder wie ein Kind sein, und wer tröstet, wie eine Mutter. Nach dem Tod seiner Frau schrieb der Theologe und Religionspädagoge Fulbert Steffensky: "Einen Menschen trösten heißt, ihn bedürftig sein zu lassen; ihn weinen zu lassen; ihn kleiner sein zu lassen, als er ist." Trost ist mehr als ein Trostpflaster, eine Vertröstung, ein dahergesagtes "Das wird schon wieder". Echter Trost ist empathisch. Wer tröstet, leidet mit, hält aus, bleibt da. Trost hat eine Dimension der körperlichen Nähe: Gesten und Berührungen, Umarmungen und das Abwischen der Tränen wirken tröstend und vermitteln Geborgenheit.
Trost heißt auch Vertrauen
Auch Worte können Trost spenden, davon zeugt die Bibel selbst. Von Trost durch Gott ist bei den Propheten und in den Psalmen immer wieder die Rede: "Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott", heißt es zum Beispiel in Jesaja 40,1. "Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil", bekennt der Beter des 73. Psalms. In Psalm 119 ist es explizit Gottes Wort, das tröstet: "Das ist mein Trost in meinem Elend, dass dein Wort mich erquickt" (Vers 50) und "HERR, wenn ich an deine ewigen Ordnungen denke, so werde ich getröstet" (Vers 52). In Psalm 23 fühlt sich der Beter in schwerer Zeit durch Gottes Anwesenheit beschützt: "… du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich" (Vers 4). Dass auch Vergebung trösten kann, belegt Jesaja 38,17: "Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück."
Im Neuen Testament verspricht Jesus seinen Nachfolgern: "Aber der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe" (Johannes 14,26). Getröstet werden nach Jesu Verheißung besonders die Leidtragenden (Matthäus 5,4). Der Apostel Paulus spricht in Römer 15,4 vom "Trost der Schrift" und widmet dem "Gott allen Trostes" ganzen Absatz des zweiten Korintherbriefes, in dem er seiner Hoffnung auf Trost "in aller unserer Trübsal" Ausdruck verleiht (2. Korinther 1,3-11).
Das griechische Wort paraklesis im Neuen Testament hat neben Trost übrigens die Bedeutung Zuspruch, Ermunterung. Das deutsche Wort Trost lässt sich auch mit innere Festigkeit übersetzen, es ist verwandt mit treu und trauen, hat also auch mit Vertrauen, Zuversicht, Hoffnung zu tun. Trost, so das Biblische Wörterbuch von Brockhaus, umfasst die "Heilung des ganzen Menschen, Stärkung, ja Neubelebung". Die Klinikseelsorgerin Kristina Schnürle formuliert in ihrer Auslegung: "Wer trostlos ist, dem entgleitet der Boden unter den Füßen." Wer getröstet ist, gewinnt wieder Standfestigkeit. Besonders schön kommt der Bedeutungsumfang von Trost im Zusammenhang mit Gottvertrauen in der ersten Frage und Antwort des Heidelberger Katechismus zum Ausdruck: "Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben, nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre …"