Auf der Flucht sind die letzten Dinge nicht geregelt. Doch gestorben wird immer und überall. "In Deutschland sterben jedes Jahr 865.000 Menschen. Das sind rund ein Prozent der Bevölkerung“, sagt Rolf Lichtner, Generalsekretär des Bundesverbandes Deutscher Bestatter e.V. Geschätzt waren Anfang Anfang Oktober 2015 rund 800.000 Flüchtlinge in Deutschland. Wie viele Menschen in den deutschen Flüchtlingslagern bislang verstorben sind, sei allerdings nicht bekannt. Zudem sind viele Institutionen und freiwillige Helfer auf den Tod im Flüchtlingslager nicht ausreichend vorbereitet. Wenn ein Flüchtling stirbt, stellen sich viele Fragen, die sich nicht leicht beantworten lassen: Wie und an welchem Ort soll nach den Riten welcher Religion bestattet werden? Gibt es Angehörige und wie sind sie zu erreichen? Und wer zahlt letztlich die Beerdigungskosten?
"Alle reden von Willkommenskultur. Wir brauchen auch eine Abschiedskultur", sagt Helga Bardischewski mit Blick auf angemessene Formen von Sterbebegleitung und Trauerbewältigung. Im vergangenen Jahr hat sie zu diesem Zweck den Verein "Sterben in der Fremde" gegründet. Ein spezielles Augenmerk soll hierbei auf den Besonderheiten der verschiedenen Umgangsweisen in unterschiedlichen Religionen und Ländern mit dem Tod liegen. Noch werde dieser und der Umgang mit ihm in vielen Flüchtlingsheimen tabuisiert. "Viele haben Angst, Fehler zu machen". Dabei sei es erst einmal überhaupt wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Deswegen klärt sie mit ihrem Verein Pflegekräfte und Hospizbegleiter über die kulturellen und religiösen Unterschiede beim Sterben, Bestatten und Erinnern auf.
Eine offene Frage bleibt, wer im Falle eines Falles das Totenritual und Begräbnis eines Flüchtlings organisiert. Sie selbst hat erfahren, dass viele Beteiligte schnell überfordert sind, wenn ein Asylbewerber stirbt. "Mit Tod und Sterben umzugehen, fällt niemandem leicht. Hinzu kommen die sprachlichen Barrieren", sagt Bardischewski und fügt hinzu: "ehrenamtlich und allein ist das nicht zu schaffen." So begleitete die Sozialarbeiterin, die auch Hospizbegleiter ausbildet, zehn Monate lang einen 45 Jahre alten iranischen Flüchtling im Aschaffenburger Asylbewerberheim auf seinem letzten Lebensweg. Der Iraner war allein nach Deutschland gekommen. Im Flüchtlingscamp erfuhr er, dass er Krebs hatte. Bardischewski regelte nicht nur seine medizinische Versorgung. Sie begleitete ihn auch beim Sterben.
Interreligiöse Missverständnisse in der Todesnacht
Am Sterbebett des Mannes hätte sie beinahe noch einen Streit mit dem Imam angefangen, weil dieser ihm als letzte Wegezehrung Wasser zu Trinken gab. "Aus der Hospizarbeit weiß ich, dass das den Körper und den Organismus belastet." An jenem Abend hatte sie dies nicht verstanden. Es kam aber zu keiner Eskalation. Sie behielt ihr Unverständnis für sich. Erst später erfuhr sie, dass ein Sterbender muslimischen Glaubens stets ausreichend zu trinken erhalten muss, weil der religiösen Vorstellung nach der Weg ins Paradies lang sei. "Ich dachte, ich sei im Recht und habe später erkannt, dass im Einzelfall der religiöse Hintergrund schwerer wiegen kann und dass wir zu wenige Berührungspunkte mit Menschen haben, die anderen Glauben sind“, sagt Bardischwski heute.
Zuvor ist es ihr gelungen, seine Mutter aus dem Iran mit einem Besuchsvisum nach Deutschland zu holen. Seine Familie lebte über die halbe Welt verstreut. Und weil der Tod nicht planbar ist, musste ihr Visum zeitlich verlängert werden, was wiederum viele Absprachen mit den Behörden erforderte. Am Tag nach der Beerdigung flog die Mutter wieder zurück in ihre Heimat. Für eine Überführung, die rund 10.000 Euro gekostet hätte, fehlte das nötige Geld. Die Stadt zahlte eine Sozialbestattung auf dem muslimischen Teil des Waldfriedhofs in Aschaffenburg. Bardischewski hat seither noch von zwei weiteren Todesfällen erfahren. Stets stellen sich die gleichen Fragen. Stets haben die Menschen Angst, Fehler zu machen.
Jede Religion geht anders mit ihren Toten um
Tatsächlich sind die Unterschiede in der Sterbebegleitung, Bestattung und Trauer zwischen den Religionen groß. "Für die Bestatter sind sie längst ein fester Bestandteil ihrer Ausbildung", sagt Rolf Lichtner. Viel kann auch aus den Erfahrungen der bisherigen Migration gelernt werden. Schließlich lebten hierzulande vier Millionen Muslime. Auffälligste Unterschiede sind: Beim Sterben soll ein Muslim nicht allein gelassen werden. Die letzten Worte, die er hören und wenn möglich auch sprechen soll, sind das Glaubensbekenntnis. Dem folgt ein dreitägiges Todesritual. Der Tote ist zu waschen und in ein nahtloses Leinentuch einzubinden. Innerhalb von 24 Stunden sollte der Leichnam bestattet werden. Eine Feuerbestattung ist verboten. Die Einhaltung der zeitlichen Frist ist bei Verstorbenen, die in ihrer Heimat bestattet werden wollen, allein wegen nötiger Behördengänge mit allerhand Schwierigkeiten verbunden. Wird der Tote in Deutschland bestattet, ist zu berücksichtigen, dass ein Muslim im Leichentuch ohne Sarg und mit dem Gesicht nach Mekka auf der rechten Seite des Körpers Richtung Mekka liegend in ewiger Totenruhe begraben werden soll. Dem stehen jedoch oftmals die Sargpflicht, die Friedhofsordnung und die Vergabe von Grabstellen auf Zeit im Wege. In einzelnen Bundesländern wurde daher die Sargpflicht mittlerweile aufgehoben und mancherorts gibt es spezielle Gräberfelder für Muslime.
Eine längere Bestattungstradition in Deutschland haben die Juden. Sie haben traditionell seit vielen Jahrhunderten ihre eigenen Grabfelder. In der Regel werden sie im Sarg in so genannten "Ewigkeitsgräbern" bestattet, auf ewige Zeit. In Deutschland gibt es die generelle Regel, dass Angehörige Sorge für die Pflege des Grabes tragen sollen. "Es gibt hierzulande Beisetzungsformen für Angehörige aller Glaubensrichtungen", sagt Lichtner. So würden in Deutschland auch Bestattungsrituale der Buddhisten umgesetzt. Nicht erlaubt hingegen sei es, wie bei den Hinduisten üblich, die Asche der Verstorbenen in einen Fluss zu streuen. "In Binnengewässern kann die Asche des Toten nicht verstreut werden. Das ist nicht gestattet. Wir haben dafür die Seebestattung in der Nord- und Ostsee", erklärt Lichtner.
"Wanderbewegungen hat es immer gegeben, und dabei ist festzustellen, dass Bestattungsbräuche mitgenommen wurden", schreibt Reiner Sörries, ehemaliger Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel und außerplanmäßiger Professor für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte an der Universität in Erlangen, in einer Monografie zum Thema. "Das deutsche Bestattungs- und Friedhofsrecht zählt innerhalb der europäischen Union zu den am meisten reglementierten, wobei diese Situation durch den Föderalismus und die Eigenkompetenz der Kommunen und Friedhofsgemeinden noch verschärft wird", sagt er weiter. Von allen Regelungen seien die jüdischen Gemeinden ausgenommen, denen aus historischen Gründen eine Selbstverwaltung von Friedhöfen erlaubt ist. Sörries fügt hinzu: "Auf ihnen gelten auch andere deutsche Regelungen wie die Befristung der Grabesruhe nicht".
In aller Regel wollen die meisten Menschen aus dem Ausland, die in Deutschland ihre neue Heimat gefunden haben, auch hier bestattet werden. Aber eben nicht alle. "Wir haben bei muslimischen Mitbürgern, insbesondere aus der Türkei, die Erfahrung gemacht, dass zwei Drittel zurückgeführt werden", sagt Lichtner. Für manche mag die Motivation, dort begraben zu werden, wo die eignen Wurzeln liegen, eine Rolle spielen. "Für viele ist das aber nicht das ausschlaggebende Argument", weiß Lichtner. Denn viele Muslime aus der Türkei hätten eine Versicherung abgeschlossen, die die Kosten für eine Rückführung ihres Leichnams übernehme. Die Beisetzung in der Türkei werde dann vom türkischen Steuerzahler getragen.
Trauer will und muss gelebt werden
In Deutschland gibt es 33.000 Friedhöfe, von ihnen sind ein Drittel kirchlich. Die Gemeinden müssten sich in Zukunft auch auf Begräbnisse gestorbener Flüchtlinge einstellen, appelliert Rolf Lichtner. Da sei noch sehr viel Beratungsbedarf. Zudem stellt sich auch die Frage, wie Flüchtlinge, die in Deutschland leben, Abschied von Vestorbenen nehmen können, die in ihrem Heimatland zurückgeblieben sind. Einen ersten Versuch gibt es in Düsseldorf. Dort wurde 2012 der erste Trauerort in Deutschland speziell für Flüchtlinge und Zugewanderte eröffnet. Nach Angaben der Initiatoren soll der Ort Menschen aus allen Kulturen offenstehen, die ihre Toten nicht in ihrer Heimat betrauern können.
Trauer will und muss gelebt werden. "Migration bedeutet auch, Abschied zu nehmen und einen Neuanfang zu wagen. Hierbei spielen Trauerprozesse, das Vergangene hinter sich zu lassen und sich auf die neue Situation einzustellen, eine bedeutende Rolle. Verdrängte Trauer blockiert einen möglichen Neuanfang und kann verhindern, sich auf eine neue Lebenssituation einzulassen", formuliert das Psychosoziale Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf. Schlimmstenfalls führten diese verdrängten Prozesse zu handfesten psychischen Krisen, in denen den Betroffenen die Kraft und der Mut fehlen würden, sich auf die Herausforderung der Integration einzulassen.