Wo sind Sie mit humedica derzeit genau?
Wie sieht der Einsatz von humedica aus?
Vietz: Ehrenamtliche, die eine Schulung bei humedica gemacht haben und in einer Art Pool registriert sind, bekommen vor einem Einsatz eine sogenannte Alarmierung. Wenn sie geklärt haben, dass sie aus ihren jeweiligen Verpflichtungen rauskommen, um an dem Einsatz teilzunehmen, geht es los. In der Regel sind die Freiwilligen dann zwei bis drei Wochen vor Ort, nicht länger. Die Realität eines Einsatzes fordert einen hohen Tribut - wenig Schlaf, emotionale Belastung -, deshalb die begrenzte Zeit.
Unser momentanes Team besteht aus zwei Ärzten, einer Krankenschwester und zwei Koordinatoren, davon bin ich einer. Wir sind dafür verantwortlich, die Rahmenbedingungen zu setzen: Logistik, Verpflegung, Unterbringung, Absprachen mit anderen Hilfsorganisationen - alles, was notwendig ist, damit die Ärzte arbeiten können.
Wir sind seit fast zwei Wochen hier im Einsatz. In Kooperation mit Ärzte ohne Grenzen bieten wir eine medizinische 24-Stunden-Versorgung an. Dafür haben wir haben ein Haus gemietet, das direkt an dem Weg liegt, den die Flüchtlinge nehmen müssen, um sich zu registrieren. Wir versuchen deutlich zu machen, dass wir kostenlose medizinische Versorgung anbieten. humedica übernimmt die Nachtschicht, das heißt, wir arbeiten von zehn bis sechs Uhr morgens.
"Manche Menschen zittern nur noch und nicht mehr ansprechbar, manche kippen um, werden bewusstlos"
Wie erleben Sie die Situation in Presevo?
Vietz: Eine der großen Herausforderungen dieses Einsatzes ist die Unplanbarkeit. Das hat zum einen mit der Anzahl der Flüchtlinge zu tun: Mal ist es sehr leer, und die Flüchtlinge können schnell registriert werden. Dann wieder kommen - so war es in der letzen Nacht - über dreitausend Menschen, die in der Kälte, in der Nässe übernachten mussten. Und zum anderen hat es mit dem Wetter zu tun - letzte Nacht hat es konstant geregnet. Die Menschen, die kommen, sind häufig nur leicht angezogen: eine dünne Jacke, Sandalen, manche sind barfuß. Seitdem ich hier bin, war das die schlimmste Nacht. Wir haben bestimmt hundertfünfzig Patienten versorgt, vielleicht auch noch mehr.
Woher kommen die Menschen und wie geht es ihnen?
Vietz: Die meisten kommen aus Syrien, aber auch aus Afghanistan, Irak, Iran. Die Menschen, die hier ankommen, sind größtenteils völlig entkräftet. Dazu kommt die Kälte, das heißt, viele leiden an Unterkühlung. Das geht soweit, dass manche Menschen nur noch zittern und nicht mehr ansprechbar sind. Manche kippen um, werden bewusstlos. Viele haben seit längerem keinen Arzt mehr gesehen.
Die meisten sind mit ihren Familien unterwegs, das sind dann mindestens fünf, können aber auch bis zu zehn Personen sein: eine Großmutter, die über neunzig ist und im Rollstuhl geschoben wird, oder Kleinkinder, die kaum laufen können - da ist jedes Alter dabei. Das ist eine komplette Gesellschaft, die auf der Flucht ist und hier ankommt.
Haben Sie bei Ihrer Arbeit die Möglichkeit, die Geschichten der Menschen zu hören?
Vietz: Manchmal, ja. Diese Woche habe ich mit einem Zahntechniker aus Syrien gesprochen, der mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern fünfzehn Tage nonstop unterwegs war. Er trug Sandalen, hatte völlig wund gelaufene Füße und konnte kaum noch gehen. Dazu hatte er Brandverletzungen von einem Luftangriff in Syrien. Der Wunsch nach Frieden und Ankommen war ihm so anzumerken. Wir haben seine Füße verarztet, ihm Schuhe und Socken gegeben - aber da kommt die Hilfe, die wir in der Lage sind zu leisten, an die Grenzen. Wir hoffen, Menschlichkeit vermitteln und ein wenig Hoffnung geben zu können.
Ist die Zeit da, mit einem Flüchtling länger zu sprechen und sein Schicksal zu hören, dann geht das sehr nah. Die Menschen, die hier sind, haben nicht beschlossen zu fliehen. Sondern an einem Punkt, an dem es einfach nicht mehr anders ging, wurde die Entscheidung für sie getroffen. Niemand will fliehen.
Wie ist der Umgang vor Ort mit den Flüchtlingen?Vietz: Die serbische Polizei hier in Presevo gibt ihr bestes, um alles friedlich, schnell und gut abzuwickeln, so ist mein Eindruck. Sowohl die serbischen Behörden als auch die verschiedenen Hilfsorganisationen, die hier sind - zum Beispiel UNHCR, Ärzte ohne Grenzen, Save the Children - arbeiten alle mit Hochdruck daran zu helfen. Wenn man zum Beispiel eine junge Mutter mit einem Baby auf dem Arm sieht, die einen nur flehend anschaut, ins Warme und Trockene zu kommen - dann nimmt einen das mit. Und niemand kann absehen, wie lange dieser Einsatz hier insgesamt dauern wird.
Am Sonntag kommen erneut Regierungschefs von EU-Staaten in Brüssel zusammen, um über die Flüchtlingskrise zu sprechen. Was müsste Ihrer Meinung nach politisch passieren?
Vietz: Aus unserer Arbeit konkrete Handlungspunkte abzuleiten, ist sehr schwierig. Die Flüchtlinge haben Krieg, Leid, Verfolgung erlebt und kommen hier unter widrigen Umständen an. Ich denke, es ist sehr wichtig, den Bezug zur Realität dieser Menschen nicht zu verlieren. Das Verständnis dafür muss bei jeder politischen Entscheidung und in der Notwendigkeit, Lösungen zu finden, präsent sein.