Über 1,1 Millionen Menschen in Deutschland sind von einer Demenzerkrankung betroffen. Sie erleiden einen irreversiblen Verlust ihrer Persönlichkeit und sind unfähig, ihren Alltag zu bewältigen. Aber dennoch sind nicht auch ihre religiösen Bedürfnisse und Äußerungen verloschen. Zu diesem Ergebnis kommt die Nürnberger Pflegewissenschaftlerin und Theologin Barbara Städtler-Mach in ihrer Forschungsarbeit an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg.
"Demenz ist eine Art des Verlustes der Kognition", sagt die langjährige Klinikseelsorgerin. "Demenzkranke kennen weder Glaubensinhalte oder Details von biblischen Geschichten. Sie wissen nicht, warum Ostern oder Weihnachten gefeiert wird, aber für das Gefühl von Geborgenheit und Getragensein, das aus einem lebensfördernden Glauben erwächst, sind sie zugänglich und ansprechbar", ist Barbara Städtler-Mach aufgrund ihrer Forschungsergebnisse überzeugt.
Sensibel und achtsam
In dem von ihr initiierten Forschungsprojekt, bei dem Studierende mit Methoden der empirischen Theologie Demenzkranke in Pflegeeinrichtungen beschreibend beobachteten, fanden sie aussagekräftige Hinweise dafür, dass früher Gelerntes und Gelebtes in bestimmten Situationen auch für demenzkranke Menschen wieder zugänglich wird. Bei der Generation der über Siebzigjährigen, die sehr häufig noch kirchlich sozialisiert sind, zeigte sich das bei Ritualen, Liedern und religiösen Texten, die ihnen seit Kindertagen vertraut waren.
Eindrücklich erinnert sich Barbara Städtler-Mach an eine Demenzkranke, für die schon eine künstliche Ernährung erwogen wurde, weil sie nach der Aufnahme ins Heim jegliches Essen verweigerte. Die Frau begann wieder zu essen als ein Tischgebet gesprochen wurde. Häufig sei auch zu beobachten, dass Demenkranke weniger nach dem Pflegepersonal rufen oder klingeln, wenn es ein Abendgebet oder Lieder zum Tagesausklang gibt.
"Wir haben ein verkürztes Menschenbild, wenn wir sagen, nur weil jemand intellektuell nicht geordnet ist, dann hat er auch keine religiösen Bedürfnisse mehr." Mit dem Religionspsychologen Fauler unterscheidet die Theologin zwischen "believe", der Stufe des Wissens und der kognitiven Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten, und "faith", der Stufe einer sehr elementaren Weise des Glaubens, die vor allem Emotionen anspricht.
Allerdings zeigte die Untersuchung, dass auch die dunkle, angstbesetzte Seite von Religion wieder wach gerufen werden kann. Barbara Städtler-Mach bedauert, dass sogar eine Mehrheit der in der Studie begleiteten Demenzkranken religiös besetzte Ängste zeigte. "Pflegekräfte und betreuende Angehörige tun gut daran, religiöse Bedürfnisse und Äußerungen gleich welcher Art nicht einfach abzutun, sondern sie als real anzuerkennen, sie sensibel wahrzunehmen und achtsam auf sie einzugehen", lautet die erste Konsequenz, die Barbara Städtler-Mach aus den Forschungsergebnissen zieht.
Für die Umsetzung in den Pflegealltag sieht die Pflegewissenschaftlerin allerdings eine grundsätzliche Herausforderung: "Viele Pflegende sind selbst nicht mehr religiös." Nach ihrer Beobachtung ist eher Unsicherheit als aktive Ablehnung die Ursache dafür, wenn Pflegekräfte das Thema Religiosität von sich und den dementen Bewohnern fern halten. Sie schlägt deshalb Fortbildungen vor: "So wie man Mitarbeitende im Bereich von Hygienestandards oder Kinästhetik schult, um die Lebensqualität der Demenzkranken zu steigern, sollte es Schulungen geben, in denen die Sensibilität für das Thema Religiosität gefördert wird."
Der Wohlgeruch erreicht sie
Im Siegfried-Faber-Heim der Diakonie Neudettelsau in Hersbruck gehören solche Angebote für die Mitarbeitenden schon lange zum Standard. "Unser Personal muss eine positive Affinität zum Thema Religion haben. Wer sich nicht sicher fühlt, kann eine Fortbildung machen. Denn wenn eine Pflegekraft mit einem Bewohner betet, dann soll das schon echt sein", findet Heimleiter Stephan M. Abt. Für den Diplom-Theologen und Krankenpfleger gehört es zum christlichen Menschenbild, "dass der Mensch mehr ist als sein Leib".
Im Rahmen einer nichtmedikamentösen Therapie für Menschen mit Demenz gibt es in Hersbruck ein besonderes Angebot: MAKS heißt es, das steht für "Motorische, Alltagspraktische, Kognitive und Spirituelle Aktivierung" und meint eine ganzheitliche Aktivierung Demenzkranker. Für letztere hat Stephan Abt die Inhalte und Methoden entwickelt. Die Angebote reichen von einer meditativen Einstimmung im Stuhlkreis über den Einsatz von Klangschalen bis zur Verleiblichung religiöser Inhalte. So wird etwa in der Passionszeit die Geschichte der Fußwaschung nicht nur vorgelesen, sondern praktiziert und so erlebbar gemacht. In den Gottesdiensten für Demenkranke haben auch Kindergebete, Weihwasser und Kreuzzeichen Raum. Jegliche Form von "Zwangsspiritualisierung" lehnt Stephan Abt jedoch ab. Auch hier gilt der Respekt vor der Biographie der Kranken.
Seit 1997 leitet die Pflegemanagerin und Sozialwissenschaftlerin Eva Trede- Kretzschmar das Richard Bürger Heim in Stuttgart Feuerbach. Hier leben Menschen, die überwiegend schwerst demenzkrank sind. "Die Krankheitsverläufe sind so unterschiedlich wie die Menschen unterschiedlich sind. Im fortgeschrittenen Stadium der Alzheimer Demenz sind auch Langzeiterinnerungen nicht mehr zugänglich", sagt EvaTrede-Kretzschmar. Ein religiöses Angebot gibt es im Richard Bürger Heim dennoch. Dabei setzt Eva Trede-Kretzschmar nicht auf Anknüpfung an Erinnerungen aus Kindertagen. Sie geht einen anderen Weg, auf dem zu ihrer Freude auch Menschen zu erreichen sind, die nicht religiös vorgeprägt sind.
Am Freitagnachmittag gibt es das Angebot eines Taizé-Gebets, das auch für Gesunde offen ist. Vermutlich aufgrund ihrer Intonation und ihres Wiegenliedcharakters aktivieren die religiösen Lieder aus Taizé die Emotionalität der Bewohner. "Es ist für mich seit vielen Jahren zutiefst beeindruckend, wie auch Schwerstkranke, von denen man den Eindruck haben kann, sie bekämen gar nichts mehr mit, auf diese Lieder reagieren. Bei 'Laudate omnes gentes' wiegen etliche mit der Hand mit, andere summen sogar mit", schildert Eva Trede-Kretzschmar. Zum Abschluss gibt es – anknüpfend an das alte Ritual der Krankensalbung – einen Tropfen Öl auf Handrücken, Stirn oder Kinn. Achtsam und sanft wird er aufgetragen. "Nicht alle sind mehr über den Hörsinn zu erreichen, aber der Wohlgeruch erreicht sie. "Das hat ganz starken spirituellen Wert", urteilt Eva Trede-Kretschmar.
Und was ist mit Menschen, die geprägt sind von dem Gott mit dem erhobenen Zeigefinger? Eva Trede-Kretzschmar hat einen ungewöhnlichen Blick auf die schwerste Demenz entwickelt. "Der Krankheit ist zu eigen, dass mit zunehmendem Vergessen auch die Ängste vergessen und gelöst werden. Vielleicht gehen sie so mit gesunder Seele in den Tod."