Dolorosa Sinaga dreht sich noch schnell eine Zigarette, bevor sie den Besucher auf der überdachten Veranda ihres Hauses in Jakarta zu einigen ihrer Skulpturen führt. Auf dem Verandageländer ruht in Bronze die Skulptur des 2009 verstorbenen großen Mann des modernen, toleranten indonesischen Islam und ehemaligen indonesischen Staatspräsidenten Abdurrahman "Gus Dur" Wahid als fröhlicher, liegender Buddha. "Gus Dur war ein guter Freund", erzählt die Bildhauerin. Dann lotst sie den Besucher zu einer kleinen Statue. Sie stellt eine Frau dar, die einem bewaffneten Mann ein aufgeschlagenes Buch hinhält und ihn fragt: "General, haben sie das Buch der Liebe gelesen?" Sinaga sagt: "Liebe ist die Essenz unsers Lebens. Wer liebt, tötet nicht." Der Soldat symbolisiert das noch immer politisch und wirtschaftliche mächtige Militär Indonesiens, das in der Folge der Ereignisse vor 50 Jahren die Macht übernommen hatte.
Am 30. September 1965 wurden sechs Armeegeneräle ermordet. Das ist aber auch schon das einzige gesicherte historische Faktum. Wer die Täter waren, wer die Hintermänner, welche Motive sie hatten – das alles ist bis heute ungeklärt, Gegenstand von viel Spekulation und noch mehr Propaganda. Armeegeneral Suharto hatte der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI) einen Putschversuch vorgeworfen. Die PKI war eine der größten kommunistischen Parteien Südostasiens. In der Regierung von Präsident Sukarno war sie mit drei Ministern vertreten. Mit der Schuldzuweisung an die PKI löste Suharto die mörderische Hatz auf Kommunisten aus, der auch auf viele nicht-kommunistische Indonesier, die für die Rechte von Bürgern, Frauen, Religionen oder Berufsgruppen einstanden, zum Opfer fielen. Suharto übernahm bis zu seinem Sturz 1998 die Macht und rief die "Neue Ordnung" aus. Für geschätzte 26 Millionen Indonesier bedeutete die Neue Ordnung Ära Suharto Gewalt, Tod, Verfolgung, Unterdrückung, Schikane, Diskriminierung und Berufsverbote.
"Die junge Generation muss erfahren, was damals passiert ist"
"Meine unmittelbare Familie war von den Pogromen nicht betroffen", erzählt Sinaga, die damals 13 Jahre alt war und mit ihren Eltern in Jakarta lebte. "Aber wir hatten von den Morden gehört. Freunde aus dem Heimatdorf meines Vaters im Nordsumatra hatten uns von einem Flussbett voller Leichen berichtet", erinnert sich die Protestantin.
Sinaga gehört zu jener gesellschaftlichen Minderheit in Indonesien, die das Schweigen über 1965 brechen will. Als Dozentin am Jakarta Arts Institut bringt sie im Studiengang "Aktivismus und Kunst" angehenden Künstlern ihren Grundsatz bei, dass Kunst nur dann bedeutsam ist, wenn sie gesellschaftliche und politische Kraft hat. Als Aktivistin gehört sie dem Steuerungskommittee zur Planung und Durchführung des Indonesischen Volkstribunals an.
Das Indonesian Peoples Tribunal (ITP) findet Mitte November im niederländischen den Haag statt und soll die Verbrechen von 1965 untersuchen. "Die Geschichtsschreibung über 1965 und Suhartos Neue Ordnung darf nicht länger der Regierung und dem Militär überlassen werden. Die junge Generation muss erfahren und verstehen, was damals wirklich passiert ist", sagt Sinaga mit Leidenschaft.
Bedjo Untung, einer der Überlebenden der Ära von General Suharto, ist in diesen Tagen ein gefragter Mann. Der Vorsitzende der Opferorganisation Yayasan Penelitian Korban Pembunuhan 1965 (YPKP65) gibt in indonesischen Medien Interviews, beklagt, dass sich keine Regierung seit dem Sturz von Suharto im Mai 1998 zu einer Entschuldigung gegenüber den Opfern für das Massaker und die Menschenrechtsverletzungen durchringen konnte. "Die Kräfte der Neuen Ordnung, sind – vor allem im Militär – noch immer an der Macht", sagt der grauhaarige Javaner bei einem Treffen in einem Café in einer schicken Shopping Mall von Jakarta.
Bedjos Vater kam für elf Jahre ins Gefängnis, drei seiner Onkel wurden umgebracht. Er selbst, damals 17 Jahre alt und Mitglied einer Studentenorganisation, konnte zunächst entkommen. "Die Studentenorganisation hatte nichts mit der PKI zu tun. Trotzdem standen wir auf den Todes- und Verhaftungslisten", erinnert sich Bedjo, der damals in Pemalang in Zentraljava lebte. "Wir versteckten uns in den Wäldern. Wer den Suchtrupps des Militär und der Milizen in die Hände fiel, wurde gefoltert und umgebracht."
Täter waren die Armee und Milizen wie die Banser in Ostjava, die "Multifunktionale Hilfstruppe" der muslimischen Massenorganisation Nahdlatul Ulama (NU). In der East Nusa Tenggara, der einzigen indonesischen Provinz mit einer katholischen Mehrheit, wüteten Katholiken. Im Norden Sumatras, einer Hochburg des indonesischen Protestantismus, rekrutierte das Militär Gangsterbanden als Todesschwadronen.
Bedjo entkam nach Jakarta, lebte fünf Jahre im Untergrund, bevor auch er 1970 verhaftet und gefoltert wurde und neun Jahre in Gefängnissen und Arbeitslagern durchlitt. "Ich habe Katzen, Schnecken und Gras gegessen. Sonst hätte ich nicht überlebt." Seine Entlassung am 24. Oktober 1979 habe aber nicht Freiheit bedeutet. "Politische Häftlingen bekamen keine Arbeit, mussten sich einmal im Monat beim Militär melden, Umzüge mussten beantragt werden."
Die Diskriminierung ging auch nach dem Sturz von Suharto weiter. Noch lange nach der Neuen Ordnung prangte im Personalausweis der Opfer von 1965 der Stempel ET, "eks tahanan politik", ehemaliger politischer Häftling. Damit war Menschen wie Bedjo der Zugang zu Jobs in der Verwaltung, in Schulen, im Militär oder auch eine politische Karriere verschlossen. "Mit dem ET-Stempel bekamen wir nicht einmal Kredite, um uns eine Existenz aufzubauen."
"Immer mehr Menschen werden mutiger und fragen..."
In den Jahren der Qual waren es Musik und Religion, die Bedjo Kraft gaben. In den indonesischen KZs lernte er Gitarre und Klavier spielen. "Ein Klavier gab es natürlich nicht. Ich hatte mir die Tasten auf Papier aufgemalt." Zwei Fähigkeiten, die ihm nach seiner Entlassung Arbeit beschert hatten. "Als Lehrer bekam ich als ehemaliger ET keine Stelle. Es waren ausländische Familien aus Deutschland, aus Singapur oder Japan, die mich als Privatlehrer für Musik und Englisch engagierten."
Durch einen Zellengenossen kam der Muslim zum Christentum. "Ich las die Bibel. Das hat mir gut getan." Als Christ will sich Bedjo, der in einer religiösen Patchwork-Familie lebt, nicht bezeichnen. "Meine Frau ist eine sehr traditionelle Muslimin. Meine beiden Söhne sind als Muslime aufgewachsen. Einer ist jetzt aber Katholik." Über sich selbst sagt er, er könne sich nicht für eine Religion entscheiden. "Vielleicht bin ich ein muslimischer Christ oder eine christlicher Muslim. Ich weiß es nicht", sagt Bedjo lachend.
Während der Ära Suharto war es absolut unmöglich, über den Massenmord zu sprechen. Jeder, der sich der offiziellen Propaganda von der Heldentat zur Rettung des Vaterlands widersetzte, lief Gefahr, verhaftet zu werden. Heute hat sich die Situation etwas verändert. Das offizielle Indonesien schweigt zwar weiter. Kein Wort des Bedauerns von Staat, muslimischen Massenorganisationen oder Kirchen – auch nicht zum 50. Jahrestag. Die Furcht, als angeblicher Kommunistenfreund gebrandmarkt zu werden, sitzt tief. Veranstaltungen von Opferorganisationen werden oftmals verboten, durch die Präsenz des Militärs eingeschüchtert oder von gewaltbereiten "antikommunistischen" Schlägertrupps gesprengt.
Die jüngere Generation hingegen wird langsam empfänglicher für eine Aufarbeitung der Geschichte. "Die Jugendorganisation der NU ist unser Freund", sagt Bedjo. Dolorosa Sinaga erzählt: "Seit einigen Jahren werden immer mehr Menschen mutiger und fragen, was damals wirklich geschah." Als erste (und bislang einzige) staatliche Institution hatte die indonesische Menschenrechtskommission 2012 die Morde ein "systematisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit" genannt. Hier und da können in kleineren Kinos die beiden erschütternden Filme "The Act of Killing" und "The Look of Silence" von Josh Oppenheimer gezeigt werden. Die Interviews von Bedjo in diesen Tagen, die Vorträge von YPKP65-Mitgliedern in Universitäten – das alles sind zarte Zeichen, dass sich Indonesien sehr zögerlich, sehr ängstlich, sehr vorsichtig, sehr langsam an das "sensible Thema", wie 1965 genannt wird, herantastet.
Die Forderungen der Opfer von 1965 sind klar. "Der Staat muss sich bei uns und unseren Familien entschuldigen und die Menschenrechtsverletzungen aufklären", fordert Bedjo. Hoffnung setzt er auf das Internationale Volkstribunal. "Das kann unsere Regierung nicht ignorieren."