Warum uns das 2015 wichtig war: Eine Dienstreise führte mich Ende September in den äußersten Osten Deutschlands: Vom Aussichtsturm über dem Herrnhuter Gottesacker (Friedhof) aus konnte ich nach Tschechien und Polen schauen. Herrnhut - aus der alten christlichen Siedlung ist eine sächsische Kleinstadt geworden. Im Ortskern stehen, schön gepflegt, die alten Gebäude, ganz zentral der Gemeindesaal. Ich war für unsere Freikirchenserie in Herrnhut, um an einer Singstunde, einer Predigtversammlung und einem Abendmahl teilzunehmen. All das war sehr besonders, sehr feierlich und doch so, dass ich mich auf Anhieb wie zu Hause fühlte. Gemeindiener (Pfarrer) Peter Vogt hatte mich am Bahnhof abgeholt und zum Abendessen eingeladen - was für ein schöner Abend! Ganz schnell kamen wir bei Brot, Käse und Bier von Gemeindethemen (auch in der Brüdergemeine gibt es mehr alte als junge Menschen) über Seelsorgefragen (natürlich lädt Gemeindienerin Jill Vogt auch Homosexuelle zum Ehechorfest ein) auf persönliche Glaubensthemen zu sprechen (Peter Vogt interessierte sich für meinen geistlichen Weg, dabei war ich doch nur die Reporterin...). Solche Dienstreisen, bei denen Arbeit und christliche Gemeinschaft ineinander fließen, sind das Schönste an der Arbeit bei evangelisch.de!
- Anne Kampf, Redakteurin
Dieser Inhalt erschien erstmals am 05.10.2015 auf evanglisch.de.
Sonntagvormittag, halb elf. Gut 20 Ehepaare, meist ältere, sitzen auf den weißen Bänken im großen hellen Versammlungssaal in Herrnhut, von draußen scheint die Sonne herein und lässt den roten Traubensaft leuchten, der in Glaskannen auf dem Tisch bereitsteht. Jeder Farbtupfer fällt doppelt auf in diesem Saal, in dem fast alles weiß ist: die Wände, die Rahmen der hohen Fenster, die Bänke. Einzige Farbtupfer sind die alten, messingfarbenen Kronleuchter und die grünen Gesangbücher und Sitzkissen. Dunkelgrün ist die typische Liturgiefarbe der Herrnhuter Brüdergemeine, normalerweise auch für die Tischdecke, doch die wurde gestern Abend ausgetauscht – gegen eine rote. Denn heute ist ein besonderer Tag: Das Ehechorfest.
"Chor" hat in diesem Fall nichts mit Singen zu tun (obwohl das für Herrnhut immer passen würde!), sondern kommt wohl vom französischen "corps" und heißt "Gruppe". Die Gemeinde ist traditionell in Chöre geordnet: ledige Frauen, ledige Männer, Verheiratete, Witwen. Längst gibt es nicht mehr für alle einen Festtag – aber für die Eheleute, und das eröffnet Gemeindienerin (so heißen hier die Pfarrer) Jill Vogt eine Gelegenheit zur Seelsorge: "Ich habe die Möglichkeit, diesen Menschen ein Wort zu sagen, und das finde ich sehr schön." Jill Vogt hat diesmal auch einem Männerpaar in eingetragener Lebenspartnerschaft eine Einladung geschickt, unverheiratete Paare sind ebenfalls willkommen. Mit solchen kleinen Anpassungen versucht die Herrnhuter Brüdergemeine, Tradition und heutige Lebenswirklichkeit unter einen Hut zu bekommen.
Im "Labor der Liebe"
Eines der älteren Paare, die schon seit Jahrzehnten in die Gemeinde kommen, sind Renate und Heinrich Schmorrde aus Herrnhut. Festlich gekleidet für den Sonntag nehmen sie in der dritten Reihe Platz. Seit 50 Jahren sind die beiden verheiratet, mit einem für Herrnhut typischen Lebensweg: Er stammt von hier und ist "brüderisch getauft und erzogen", sie kam mit der Hochzeit nach Herrnhut. Von hier wegzugehen, käme ihnen nie in den Sinn. Warum nicht, was ist das Besondere an der Brüdergemeine? Renate Schmorrde blickt auf das leere weiße Holzkreuz, das vorn an der Wand hängt. "Der Glaube an den Auferstandenen, der ja nicht mehr am Kreuz hängt – der ist mir wichtig." Viele hier legen Wert auf die die traditionellen Zeichen und Formen, gestern Abend noch hatte eine Frau das Pfarrerehepaar auf der Straße angesprochen: Ihr Vater, der im Altenheim lebt, habe einen Wunsch. "Er würde so gern noch einmal ein brüderisches Abendmahl feiern!" Gemeindiener Peter Vogt versprach, vorbeizukommen.
Jetzt sitzt er selbst auf einer Bank und freut sich auf die Feier, die seine Frau leiten wird. Draußen vor dem Saal, hinter der Wand mit dem leeren Kreuz, fängt der Posaunenchor an, Choräle zu spielen. Drinnen hört die Gemeinde schweigend zu und schaut in den leuchtenden September-Sonntagmorgen hinaus. Als die Posaunen enden und die Orgel erklingt, zieht Liturgin Jill Vogt mit je zwei Brüdern und Schwestern ein. Alle fünf tragen weiße Talare, die in Herrnhut den Sakramentsfeiern vorbehalten sind. Vorn am Tisch gießen sie den Saft in vier große Kelche und entfernen Tücher von den Schalen, in denen Oblaten liegen. "Kommt her, verzagte Sünder, und werft die Ängste weg, kommt her, versöhnte Kinder, hier ist der Liebesweg", singt die Gemeinde. "Empfangt die Himmelslust, die heilge Gottesspeise, die auf verborgne Weise erquicket jede Brust." Gerade die fromme alte Sprache der Lieder macht das Abendmahl zu einem nicht alltäglichen Erlebnis.
"Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen", mit diesem Vers aus dem ersten Johannesbrief beginnt Jill Vogt ihre Ansprache an die Ehepaare, auf die sie sich schon seit Tagen freut. Die Gemeindienerin mit den quirligen Locken und der orangefarbenen Brille spricht mit kräftiger, fröhlicher Stimme. Sie habe einfach unter den vielen Trauversen den ausgesucht, der ihr am besten gefalle, gesteht sie: "Vielleicht ist es der perfekte Spruch für die perfekte Hochzeit." Für viele Paare müsse ja zur Hochzeit alles perfekt sein: Das Kleid, der Gottesdienst, das Essen, die Party. Als ob davon abhinge, wie gut die Ehe wird. "Aber die perfekte Hochzeit gibt es nicht, und die perfekte Ehe gibt es ebenfalls nicht", stellt Jill Vogt fest. "Denn ein Ehepaar besteht aus zwei Menschen, die beide nicht vollkommen sind."
Die Ehe sei so etwas wie ein "Labor der Liebe", in dem beide "herausfinden, was es bedeutet, wirklich zu lieben und geliebt zu werden", sagt Jill Vogt, und in den Augen der Zuhörer erscheint entweder ein Leuchten oder eine kleine Träne – in diesem "Labor" kennen sie sich aus, die jüngeren Paare ebenso gut wie die Eheleute jenseits der Goldenen Hochzeit. "Die Kraft unserer Liebe kommt daher, dass Gott uns zuerst geliebt hat", schließt Jill Vogt ihre Ansprache mit ermutigendem Blick. Dankbarkeit breitet sich aus – wie ist es möglich, dass man sie spürt, obwohl niemand etwas sagt? Die Gemeinde kniet zum Gebet nieder, und diese demütig-altmodische Geste steht erstaunlicherweise gar nicht im Gegensatz zum heiteren Ton der Ansprache.
Dann beginnt die Gemeinde zu singen – und wird damit abgesehen von zwei Unterbrechungen durch die Einsetzungsworte – nicht mehr aufhören. Selbst den aaronitischen Segen wird Jill Vogt zum Schluss singen. Schon für den Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760), war Singen wie eine Verbindung zwischen Erde und Himmel, und in manchen Texten schlägt sich auch die gefühlsbetonte Frömmigkeit des Gründers nieder: Von Jesus als dem "Brunnquell aller Gnaden" handeln die Verse, von der "Liebesflamme" und der Gemeinde als "Braut" des Herrn. Zinzendorf war ein lutherischer Pietist, Kern und Angelpunkt allen Glaubens ist für die Herrnhuter Jesus Christus. "Sein Leben und sein Lieben ist der Gemeinschaft Kern", singt die Abendmahlgemeinde, "Gemeinschaft ist das Leben, wir sind der Leib des Herrn". Singend predigt die Gemeinde sich selbst Gottes Wort, die Melodien dazu erklingen wie von selbst.
Die Abendmahlsdiener bringen das Brot, Symbol für Christi Tod, in die Bankreihen, brechen die Oblaten durch und reichen den Gemeindegliedern je eine Hälfte. Dabei sagen sie kein Wort. "Aber der Blick in die Augen ist ganz wichtig", sagt Jill Vogt später zur Erklärung, "und außerdem soll man ja weitersingen." Der Traubensaft, Symbol für das neue Leben in Christus, wird von einem zum anderen durch die Reihen weitergereicht, eine Frau nimmt ein Taschentuch und putzt den Rand ab. In welcher Weise Christus in den Elementen Brot und Traubensaft anwesend ist, lässt die Herrnhuter Brüdergemeine offen, der alte Abendmahlsstreit aus der Reformationszeit spielt hier keine Rolle. Es geht um die Gemeinschaft, um das gemeinsame Essen und Trinken.
Einen der großen Glaskelche mit den goldenen Henkeln an die Lippen zu heben ist an sich schon eine feierliche Handlung, die Atmosphäre des gesamten Abendmahls ist zugleich schlicht und erhaben, andächtig und erfüllend. Wer als nicht-"brüderischer" Gast mitfeiert, fühlt sich auf Anhieb in die Gemeinschaft aufgenommen. Die Klänge, Symbole, Gesten und Blicke entfalten ihre eigene Wirkung. Gäste sind allerdings – weil Sprache und Form des Herrnhuter Abendmahls auch gewöhnungsbedürftig sind – dankbar für die kursiv gedruckten Regieanweisungen auf dem Liedblatt: Wann man niederknien oder stehen soll, dass man mit dem Essen der Oblate wartet, bis alle ihr Brot in der Hand halten, dass man jetzt seinen beiden Nachbarn die Hand reichen soll.
Zweimal werden Hände geschüttelt, einmal zur Versöhnung und einmal als Ausdruck der Gemeinschaft. An diesem besonderen Tag dürfen die Paare sich statt des zweiten Handschlages ein Küsschen geben, was viele zur Freude von Jill Vogt auch tun – die Gemeindienerin grinst fröhlich. Der Nachteil ist allerdings, dass man küssend nicht weitersingen kann, die Paare geraten also leicht aus dem Takt. Macht nichts, die Liedstrophen und Melodien scheinen ein Eigenleben zu entwickeln, sie klingen immer weiter, nisten sich hartnäckig in den Ohren ein und bleiben dort – den ganzen Tag oder sogar noch länger. So hält die feierliche Stimmung des Vormittags noch für eine Weile an. Und weil die Herrnhuter das wissen, wünschen sie einander beim Nachhausegehen "ein gesegnetes Abendmahl".