Vor dem Klassenraum der 9A ist der Kinderlärm ohrenbetäubend. Doch kaum klingt die Schulglocke der Evangelischen Gesamtschule zum Pausenende, hört man nur noch ein Geräusch: arabische Gesänge vom Tonband. Was für den Besucher nach Koranstunde klingen mag, ist hier der ganz normale Religionsunterricht. Heute geht es einmal nicht um Bergpredigt, Konfirmationen oder die Thesen Luthers. In dieser und den kommenden fünf Wochen sieht der Lehrplan muslimische Themen vor. Heute: die Kaaba. Wann wurde das steinerne Monument gebaut, zu dem jährlich Millionen Muslime pilgern? Und was hat Mohammed damit zu tun? Die meisten der Schüler sind evangelisch, trotzdem sind diese Fragen für sie ein Kinderspiel. "Mohammed hat so Götzen aus der Kaaba rausgeräumt", sagt einer der Neuntklässler und schaut dann nachdenklich. "Aber was sind noch mal Götzen?"
Die Gesamtschule auf Schalke hat ein besonderes Konzept für den Religionsunterricht entwickelt. Nur die Kinder der Klassenstufen 5 bis 8 werden nach Glaubensrichtung aufgeteilt: Katholiken, Protestanten und Muslime besuchen separate Religionsstunden und lernen, was zu ihrem eigenen Glauben gehört. Doch ab der neunten Klasse wird der Religionsunterricht konfessions- und religionsübergreifend gestaltet, dann beschäftigen sich die verschiedenen Religionsgruppen gemeinsam mit Inhalten aus Bibel und Koran. In einer Stadt, in der der Anteil nicht-deutscher oder migrantischer Bewohner weit über einem Viertel liegt, ist der Kontakt zwischen Christen und Muslimen ohnehin Alltag - wieso sollte das im Religionsunterricht anders sein? Der Gedanke dahinter ist simpel: Wer in einer Gesellschaft mit verschiedenen Religionen schon früh miteinander, voneinander und übereinander etwas lernt, ist dem Anderen gegenüber toleranter.
Dorothee Winkelmann gehörte zu der Lehrergruppe, die das Projekt "Interreligiöser Unterricht" vor acht Jahren in Gang brachte. "Wir haben das damals mehr so aus dem Bauch heraus entwickelt", sagt die evangelische Religionslehrerin. Seitdem folgt auf den getrennten Religionsunterricht der gemeinsame in der neunten und zehnten Klasse. "Es geht nicht darum, eine Konkurrenz der Religionen aufzubauen, sondern den anderen in seinem Glauben zu achten und wertzuschätzen."
Dafür hat Dorothee Winkelmann sich ungewöhnliche Verstärkung geholt: eine Chemielehrerin. Als die Schulleitung die Naturwissenschaftlerin Bircan Ay fragte, ob sie auch Islamkunde unterrichten könne, war die Muslima schnell dazu bereit. "Am Anfang war ich nicht besonders sicher darin, immerhin war das ja nicht mein studiertes Fach", erzählt Bircan Ay. "Aber ich habe schließlich eine Weiterbildung zur Religionslehrerin gemacht." Geht sie heute in ihre Religionsklassen, darf eines nicht fehlen: ihr "Islam-Koffer", ein Plastikkorb, randvoll mit Islamkunde-Requisiten. Folien, laminierte Arbeitsblätter, Magneten, Bilder und Filme sollen ihr helfen, auch den christlichen Kindern verständlich zu machen, woran ihre Klassenkameraden glauben. "Die Schüler leben schließlich unter einem Dach und sollten sich nicht einfach gegenseitig ignorieren", sagt sie.
Ein Drittel muslimische Schüler
Bircan Ay ist selbst Tochter eines Gastarbeiters und hat den Großteil ihrer Kindheit in der Türkei verbracht. Erst zum Studium kam sie dauerhaft nach Deutschland. Als Türkin und Angestellte einer christlichen Schule kennt sie sich aus mit Vorbehalten gegen Einwanderer und Christen. "Aber solche Vorurteile können abgebaut werden, indem man die Schüler auf Gemeinsamkeiten hinweist. Letztlich kommen wir alle von einem einzigen Gott."
Mit ihrem sechswöchigen Exkurs in den Islam zieht die Lehrerin von Klasse zu Klasse. In jedem Zimmer erwarten sie Kinder, von denen etwa jedes dritte an Allah glaubt. Diese jungen Muslime haben zuhause selten die Möglichkeit, auf Deutsch über den Islam zu sprechen. Auch die Hintergründe von christlichen Festen wie Weihnachten oder Ostern klären sich für viele erst im interreligiösen Unterricht, der von einem evangelisch-muslimischen oder katholisch-muslimischen Lehrerteam betreut wird. "Wir machen das im Duett", sagt Dorothee Winkelmann und lacht. "Aber wir fallen uns auch gern mal ins Wort." Bisher ist der vorübergehend mehrstimmige Unterricht für Schüler verschiedener Religionen ein Erfolg. Deshalb wagt die Schule nun den nächsten Schritt: das Experiment eines interreligiösen Unterrichts in der Oberstufe.
Next Level: Interreligiös bis ins Abi
In dem Theatersaal der Schule wird es voll. Der ganze Jahrgang 11 strömt in die Aula zur ersten Religionsstunde des Schuljahres, knapp 100 Schüler, eine Halle voll Pubertät. Trotzdem gelingt es den Lehrern auf dem Podium, die Masse zur Ruhe zu bringen. Es ist immerhin ein besonderer Tag: Zum ersten Mal wird es auch für die Oberstufenschüler einen gemischten Religionsunterricht geben. Es ist ein Pilotprojekt an der Schule. Dazu sollen die neuen Klassen sich erst einmal kennenlernen und, im wörtlichen Sinne, ein "Netz" aus Fähigkeiten, Konfessionen und Herkunftsgeschichten spinnen. Mit bunten Wollfäden verknüpfen sie im Saal verteilte Stühle, auf denen Stichworte wie "Christentum" oder "Sunniten" stehen. Eine Gruppe ernst blickender Jungen versammelt sich um den Stuhl mit der Aufschrift "Agnostiker", ein einzelner bindet seinen Faden an "Buddhismus". Innerhalb einer Viertelstunde entspinnt sich ein Wollknäuel aus Weltanschauungen, das den Jugendlichen zeigen soll, wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer Religionsgemeinschaften liegen.
Einige belächeln die Aktion, ein paar Mädchen albern mit den Wollfäden herum. Doch spätestens, als Christen den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten erklären sollen und Muslime nach der Geschichte der christlichen Reformation gefragt werden, wird es ernster. "Wir können von verschiedenen Weltanschauungen, von verschiedenen Religionen lernen", fasst einer der Lehrer zusammen. "Wir können auch Unterschiede aushalten. Das wollen wir in der Gesellschaft üben, um friedlich miteinander zu leben."
Es ist der nächste Schritt: Nach getrenntem Religionsunterricht in der Unterstufe und gemeinsamem Lernen in Jahrgängen 9 und 10 geht es jetzt in der elften Klasse, kurz vor dem Abitur, um den Dialog zwischen den Religionen. "Verschiedenheit achten, Gemeinschaft stärken" lautet der Leitsatz, der den gemeinsamen Unterricht prägen soll. 120 Minuten interreligiöser Unterricht pro Woche sind für die Teenager erst einmal vorgesehen. In diesem Alter, so hofft Schulpfarrerin Britta Möhring, sind die Schüler diskutierfreudig. Sie wünscht sich interreligiöse Gespräche, angetrieben und moderiert von den Lehrteams unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Zu den katholischen und evangelischen Lehrern stoßen dafür auch ein islamischer Theologe und ein Philosophielehrer. Weil der Schule aber zu wenig geeignete Lehrer für Islamkunde und Philosophie zur Verfügung stehen, müssen die beiden Männer rotieren: Wie Bircan Ay in den Jahrgängen 9 und 10 werden auch sie die einzelnen Religionsklassen phasenweise besuchen und nur bestimmte Lehreinheiten unterstützen. Für das Projekt eines interreligiösen Lehrangebots gibt es deutschlandweit nur wenige Beispiele. "Den Mut für unser Projekt, sowie viele Anregungen und Ideen, haben wir von der Theodor Heuss Schule Offenbach bekommen", erzählt Britta Möhring.
Koran und Nagellack
"In jedem anderen Unterricht spielen die unterschiedlichen Konfessionen keine Rolle", sagt Britta Möhring. "Und gerade im Religionsunterricht sollten wir das Gespräch zwischen den Religionen und verschiedenen Konfessionen suchen." Es geht ihr nicht nur um Verständnis für die jeweils andere Religion. Wer sich mit verschiedenen Religionsansätzen beschäftigt, schärft auch den Blick für den eigenen Glauben. "Wir finden es auch wichtig, dass muslimische Kinder den Islam richtig kennenlernen", sagt sie. Ein gefestigtes, aufgeklärtes Islamverständnis sei die Grundlage, ohne die junge Muslime leicht Opfer der radikalislamistischen Propaganda würden. "Salafisten stoßen genau in die Lücken, wo sie muslimisch ungebildete Menschen finden."
Kritik am interreligiösen Unterricht gibt es trotzdem - zum Beispiel von Seiten der Eltern. Bircan Ay musste sich bei dem Projekt der neunten Klasse anfangs auch durchsetzen gegen Eltern, die diese Art des Religionsunterrichts skeptisch betrachteten. "Manche christliche Eltern wollten nicht, dass ihre Kinder Arbeitsblätter mit arabischen Schriftzeichen,die sie nicht entziffern konnten, nach Hause brachten", erinnert sie sich. "Wir haben Rücksicht darauf genommen und neue Arbeitsblätter mit zusätzlichen Erklärungen entworfen." Auch muslimische Eltern beschwerten sich. "Ich sah für sie nicht aus wie eine gläubige Muslima - mit Nagellack durfte ich keinen Koran anfassen. Mittlerweile haben sie mich aber kennengelernt und akzeptieren mich."
Modell für Deutschland
Kennenlernen, Vorurteile überwinden, Toleranz entwickeln. So soll es auch bei den Heranwachsenden der elften Klasse funktionieren. Die Diskussionen, die Britta Möhring und ihre Kollegen sich für die Schüler wünschen, bleiben nach dem Spiel mit der Wolle jedenfalls nicht aus. Ein Mädchen muss muslimischen Mitschülern erklären, was sie als Messdienerin in ihrer Gemeinde zu tun hat. Ein Atheist verteidigt vor der Klasse seine Position, er brauche keinen Gottesglauben, weil die Naturwissenschaften die Welt ausreichend erklärten. Ein junger Muslime wirft einem anderen vor, dass er nicht an jedem Freitagsgebet teilnehme. "Nur weil du jeden Freitag in die Moschee gehst, bist du noch lang kein perfekter Moslem", ruft eine muslimische Schülerin ihm entgegen.
Die Debatte zwischen den Schülern ist mal hitzig, mal sachlich. Doch aus dem Dialog scheint schon nach der ersten Lehreinheit eine neue Klassengemeinschaft hervorzugehen. Wo vorher vor allem Unwissen und Gleichgültigkeit waren, keimt gegenseitiger Respekt. Was den Integrationspolitikern und Glaubensverbänden in Deutschland und anderen Ländern mit heterogenen Glaubenslandschaften oft schwerfällt, gelingt den 16jährigen Gelsenkirchnern schon nach einer Doppelstunde interreligiösen Unterrichts. Das Wunder von Schalke, ein Modell für Deutschland.