Kapitel 4: Spiel. Dein Leben
Das Netz als sozialer Raum: Kommunikation und Gemeinschaft im digitalen Zeitalter
Dieses Impulspapier will ein Beitrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) zur Zivilisierung der digitalen Welten sein.
25.08.2015
Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Bayern
A. Filipovi?, J. Haberer, R. Rosenstock, I. Stapf, S. Waske, T. Zeilinger

Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hat sich nachhaltig verändert: Ihr Aufwachsen ist durch crossmediale Erfahrungen in einer konvergenten Medienwelt geprägt. Aktuelle Untersuchungen verdeutlichen, dass Heranwachsende weit vor Vereinsaktivitäten oder Kirche das Internet nennen, wenn sie ihr Freizeitverhalten beschreiben (Freizeitmonitor 2014).

Aufgrund der veränderten Sozialisationsprozesse und der fortschreitenden Mediatisierung der Gesellschaft benötigen Kinder und Jugendliche kommunikative Kompetenzen für ein selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Leben: Angemessene Handlungs- und Problemlösungsmuster zu entwickeln sowie der kompetente Umgang mit sich verändernden Bildungsinhalten sind zu Schlüsselkompetenzen geworden. Dabei geht es laut der Expertenkommission des Bundesministeriums für Bildung und Forschung um die gesellschaftliche Teilhabe wie um die Ausbildungs- und Berufsfähigkeit und die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Generation (BMBF 2010).

Zielgruppenorientierte Bewegtbildformate

Formelle und informelle Bildungsprozesse lassen sich durch digitale Medien effektiver verschränken, sodass sich für Bildungsinstitutionen wie Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten neue Möglichkeiten individualisierter Lernformen eröffnen. Offene Lernumgebungen setzen eine digitale Selbstkompetenz voraus und verändern die traditionellen Lernkulturen hin zu projekt- und handlungsorientierten Bildungsformen. Pädagogische Fachkräfte verändern dabei ihr Berufsverständnis und erleben sich selbst als Lernende in einem Prozess, der problemlösende und vernetzte Lernprozesse ermöglicht.

Medienkompetenz wird im Rahmen von Medienbildung als zentrale Kulturtechnik verstanden, die wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Radfahren oder Schwimmen als Lebenskompetenz erworben werden muss. Dabei werden neben dem Funktionswissen auch Kriterien für die kritische Reflexion von Medienformaten und das Wissen über die ökonomische und die Wirklichkeit konstruierende Bedeutung des Mediensystems vermittelt. Kinder und Jugendliche lernen Medien als Ausdrucks-, Artikulations- sowie Kommunikationsmittel kennen und bewusst einzusetzen, um ihre eigenen Absichten und Interessen bewusst und zielgerecht zu gestalten, zu produzieren und zu verbreiten.

Auch in den Kinder- und Jugendkulturen spielt Medienkompetenz eine wichtige Rolle: Die eigene Darstellung im Netz lebt von der Kreativität ihres Gestalters, die Fähigkeit, "outside the box" zu denken und die schnelle Anpassung an neue Kommunikations- und Informationswege, erfährt hohe Anerkennung. Dabei entwickeln sich auf Videoportalen zielgruppenorientierte Bewegtbildformate, deren Bildungs-, Informations- und Unterhaltungsfunktionen für Jugendliche inzwischen wichtiger sind als das Angebot der Fernsehsender des dualen Rundfunksystems.

Das Spiel: symbolisiert das Heilige,  kanalisiert den Kampf rivalisierender Gemeinschaften

Inklusive Medienbildung unterstützt die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen in besonderen Lebenslagen und mit Handicaps an Bildungsprozessen und gewährleistet dadurch eine höhere Beteiligungsgerechtigkeit. Digitale Medien dienen Kindern und Jugendlichen in benachteiligten Lebenslagen als Möglichkeit des kulturellen Selbstausdrucks und stehen barrierefrei mit speziellen Eingabetechnologien für Menschen mit motorischen Einschränkungen zur Verfügung.

Mediale Experimentier- und Erfahrungsräume sind zu einem wichtigen Faktor der Identitäts- und Urteilsbildung geworden, da sie Anregungen für gelingende Sinn- und Lebenskonzepte bieten und eine weitreichende Orientierungsfunktion übernehmen. Andererseits werden Heranwachsende auch mit den entwicklungsbeeinträchtigenden Folgen digitaler Medien konfrontiert, welche die Notwendigkeit des gesetzlichen Jugendmedienschutzes und der Präventionsarbeit verdeutlichen. Deshalb geht es bei Medienkompetenzentwicklung auch um ethisch-moralische und soziale Kompetenzen, die im Umgang mit den Medien als erweiterte soziale Räume erworben werden: die Haltung der Verantwortung für die mediale Selbstpräsentation und die Folgen des Medienhandelns, das Risiko des Vertrauens in der Netzwerkkultur und der kritische Blick auf das eigene Mediennutzungsverhalten.

Wurden Computerspiele lange Zeit aus einer kulturpessimistischen Skepsis heraus betrachtet, sind sie heute als Kulturgut anerkannt. Neben der ökonomischen Bedeutung der Games-Industrie finden auch die kreativ-produktiven und partizipativen Möglichkeiten der digitalen Spiele immer mehr Beachtung. Digitale Spiele knüpfen an klassische Funktionen des Spiels an, in denen die Spieler im Rahmen verbindlich vereinbarter Regeln agieren, miteinander im Wettbewerb stehen oder gemeinsam ein Ziel erreichen. Das Spiel vermittelt zudem entgrenzende Erfahrungen: Hohe Konzentration und Aufmerksamkeit führt zu Flow-Erlebnissen, die wiederum Erfahrungen von Transzendenz ermöglichen. Im Spiel wird das Heilige symbolisiert und der Kampf rivalisierender Gemeinschaften kanalisiert.

Präventive Medienerziehung gegen Cybermobbing

Onlinebasierte Spieleplattformen bieten ein Experimentierfeld[MM8]  auch für religiöse Erfahrungen. Die intermediale Form der Inszenierung von Religion verbindet narrative, ästhetische und symbolische Strukturen. Dabei steht der soziale und experimentelle Charakter im Vordergrund, es kann zwischen virtuellen Stellvertretern des digitalen Selbst (Avataren) und konfessionsanalogen Gruppen ausgewählt werden. Damit bietet das gemeinsame Spiel oder der sportliche Wettbewerb ("E-Sport") auch über nationale Grenzen hinaus die Möglichkeit für interpersonale und interkulturelle Kooperationsformen.

Der Wandel von medialen Kulturen erfährt auch eine kulturkritische Bewertung. Mit der Technisierung der Lebensvollzüge ist eine Zunahme an Gesundheitsbeeinträchtigungen verbunden. Ständige Erreichbarkeit und die ununterbrochene Nutzung von Onlinemedien können zu Aufmerksamkeitsdefiziten, Konzentrationsstörungen sowie Stress- und Erschöpfungsphänomenen führen. Die Fähigkeit, mediale Verfügbarkeit zu unterbrechen und die personale Präsenz auf die für Arbeit, Spiel und Unterhaltung vorgesehenen Onlinezeiten zu beschränken, muss generationsübergreifend erprobt und immer wieder neu ausgehandelt werden.

Die erweiterte digitale Öffentlichkeit führt beim Cybermobbing zu Phänomenen, die den Schutz der Menschenwürde vor neue Herausforderungen stellen: Als wesentliche Unterschiede zum klassischen Mobbingverhalten gelten dabei die Anonymität der Täter und der größere Verbreitungsraum. Nicht eine restriktive Medienerziehung, sondern die präventive Arbeit mit Jugendlichen zum Sozial- und Gruppenverhalten erweist sich jedoch als ein wirksames Mittel gegen Belästigung und Diffamierung in massenmedial erweiterten sozialen Räumen.

Wiederentdeckung des Sabbatgebots

Eine besondere Problematik stellt die exzessive Mediennutzung dar, da eine mediatisierte Lebenswelt mit einer zeitintensiven Computernutzung einhergeht. Dabei wird immer wieder auf das Suchtpotential von Computer- und Onlinespielen hingewiesen und von einer pathologischen Internetnutzung gesprochen. Exzessives Mediennutzungsverhalten wird allerdings bislang international nicht als Suchterkrankung anerkannt, auch wenn es in Deutschland dafür immer mehr Beratungsstellen und Spezialkliniken gibt.

Das Phänomen der exzessiven Mediennutzung kann zum einen als ein jugendkultureller Trend angesehen werden, weist zum anderen aber auch auf Risikofaktoren. Allerdings wird durch die niedrigschwellige Zugänglichkeit der digitalen Welten ein "jugendlicher Eskapismus", also die Flucht in virtuelle Umgebungen, leicht gemacht. Auch das Medienverhalten in der Herkunftsfamilie, der Gruppendruck und das Belohnungssystem in digitalen Gemeinschaften wie in Massively Multiplayer Online Games (MMOG – auch: Massen-Mehrspieler-Online-Gemeinschaftsspiel) können eine Ursache für suchtanaloge Phänomene sein. Für die Prävention ist die Stärkung der medienerzieherischen Kompetenzen in den Familien von entscheidender Bedeutung.

Eine Ritualisierung des Tagesablaufs durch medienfreie Zeiten kann einem exzessiven Gebrauch in den Familien vorbeugen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Jugendliche lernen, ihr eigenes Risikoverhalten zu reflektieren und pädagogische Fachkräfte sich die nötige Medienkompetenz aneignen, riskantes Verhalten zu erkennen und zu begleiten. Die Wiederentdeckung des Sabbatgebots kann zu einer bewussteren Lebensführung aller Alters- und Berufsgruppen beitragen. Der zeitweise Medienverzicht ist eine Option, die gewählt werden kann, um generationsübergreifend über Veränderungen in den Gewohnheiten und beruflichen Herausforderungen des Alltags nachzudenken.

Selbstverpflichtungen der ELKB

1. In den kirchlichen Kindertagesstätten, evangelischen Schulen und Fachhochschulen sowie Einrichtungen der Erwachsenen- und Seniorenbildung werden im Rahmen eines Auditverfahrens Standards für Medienbildung entwickelt. In der grundständigen Ausbildung von Religionslehrern und Religionslehrerinnen sowie Pfarrern und Pfarrerinnen an den Hochschulen ist Medienbildung verbindlich zu verankern und ein berufsbegleitendes Fortbildungsangebot für Fachkräfte zu implementieren.

2. Mit Blick auf die Verbesserung von Bildungschancen besteht eine besondere Verantwortung der ELKB, in Gemeindehäusern, Jugend- und Behinderteneinrichtungen sowie anderen Bildungseinrichtungen Kindern und Erwachsenen aus bildungsbenachteiligten Milieus sowie Menschen mit Handicaps Zugänge zu Medien zu eröffnen und ihre Potenziale im Sinne eines "Empowerment"-Konzepts zu fördern. Außerdem bietet die ELKB verstärkt in der eigenen Kinder- und Jugendarbeit alternative Erlebnisräume jenseits der virtuellen Welt an.

3. Die ELKB schafft Netzwerke von Kompetenzträgern auf dem Gebiet der Medienbildung, um durch Kompetenznetzwerke Synergieeffekte zu erreichen und Unterstützersysteme aufbauen zu können. Bildungsträger präsentieren auf einem kirchlichen Medienkompetenzportal Best-Practice Beispiele und stellen einander Open Educational Resources zur Verfügung.

Politische Forderungen

1. Die Förderung von Medienkompetenz und Medienbildung sollte von politischen Entscheidungsträgern als Steuerungsinstrument verstanden werden. Aufgrund von Rahmenvereinbarungen zur Medienkompetenzentwicklung in Bundesländern können Handlungs-modelle entwickelt werden, die eine zukunftsorientierte Bildungs- und Lernkultur auf Landesebene unterstützen.

2. Aufgrund des demografischen Wandels und der Medienentwicklung in Europa gewinnen die Bereiche der frühkindlichen Förderung, die Elternbildung und die Medienkompetenzförderung von Älteren immer stärker an Bedeutung. Medienkompetenzentwicklung sollte sich nicht auf bestimmte Entwicklungsphasen des Lebens beschränken, sondern eine generationsübergreifende Perspektive einbeziehen. Dafür sind der flächendeckende Ausbau von Stellen in der Medienbildung und die Qualifikation von (alters-)pädagogischen Fachkräften unabdingbar.

3. Das System der regulierten Selbstregulierung und die Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages muss konsequent der Medienentwicklung angepasst werden. Dafür braucht es die gemeinsame Verantwortung von Medienwirtschaft, politischen Entscheidungsträgern, Landesmedienanstalten und gesellschaftlich relevanten Gruppen, um in europäischer Perspektive einen freien Zugang zum Netz, ökonomische und sicherheitspolitische Interessen sowie einen wirksamen Jugendmedienschutz mit den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen des Verbraucher- und Datenschutzes zu verbinden.

4. Die ELKB fordert, die sozialen Räume der digitalen Welt barrierefrei zu gestalten und dadurch Inklusion zu ermöglichen.