Johanna Haberer war die Leiterin einer Arbeitsgruppe, die im Mai ein medienethisches Impulspapier zur Rolle des Internets vorgelegt hat. Es trägt den Titel "Das Netz als sozialer Raum: Kommunikation und Gemeinschaft im digitalen Zeitalter" und wurde gemeinsam von der Evangelischen Kirche in Bayern und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erarbeitet. Der Entstehungsprozess ist auf der Seite medienkonzil.de nachzulesen.
In dem Impulspapier geht es um Kommunikation im Internet und deren Potential, Kulturen und Machtverhältnisse zu verändern. Man werde die Wahrnehmung der Bürger für Chancen und Gefahren der digitalen Kommunikation schärfen und stärken. Ein Auftrag an die Kirchen sei es, "die Zivilisierung der digitalen Gesellschaft aktiv und kritisch mitzugestalten", schreibt der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm im Vorwort. Dabei gehen die Autoren von einem christlichen Menschenbild aus und bringen theologische Aspekte ein.
Das Positionspapier unterstreicht die Bedeutung eines professionellen Journalismus und betont, wie wichtig Medienbildung bei Kindern und Jugendlichen sei. Die bayerische Landeskirche stellt sich in dem Papier zahlreichen medienethischen Selbstverpflichtungen. Die 50-seitige Stellungnahme soll nun in kirchlichen Gremien weiter beraten und außerdem abschnittsweise auf evangelisch.de zur Diskussion gestellt werden.
Frau Haberer, im Vorwort Ihres Papiers ist von "Zivilisierung der digitalen Gesellschaft" als Auftrag an Christen und Kirchen die Rede. Warum? Was ist an der Gesellschaft unzivilisiert?
Johanna Haberer: Dass unzivilisierte Dynamiken entstehen, kann man gerade in diesen Tagen nachempfinden, wenn man die Pöbeleien gegen Asylbewerber und Flüchtlinge im Netz mitbekommt. Das passiert dadurch, dass man sich anonym ausdrücken kann, dass man sich auf Shitstorms setzen und Menschen bashen oder in irgendeiner Weise ruinieren kann, ohne dass man dafür Verantwortung trägt. Ich denke, es ist schon Aufgabe der Kirchen, sich an dieser Stelle für eine Kultur des Miteinanders einzusetzen. Das Netz soll kein unzivilisierter Raum sein, wo ich alles rauslassen kann, was ich sonst nicht sagen würde, sondern es ist ein Raum, in dem ich mich genauso zivilisiert bewege wie im Straßenverkehr oder an einem Esstisch.
Wo kann die Kirche ansetzen, um die Kommunikationskultur zu zivilisieren?
Haberer: Bei den Einzelnen. Sie muss Überzeugungsarbeit leisten und bei den einzelnen Menschen anfangen, das ist eine Form von gemeinsamer Erziehung. Die Kirchen sind eine der wenigen Autoritäten, die das können, indem sie zum Beispiel von Fairness reden, von Vergebung und Neuanfang. Im Netz werden Leute halb totgehetzt, so dass sie sogar das Land verlassen müssen. Wir haben bisher keine Möglichkeit, im Netz Rituale zu bilden, damit Menschen neu anfangen können. Das ist ein zutiefst christliches Anliegen. Im Christentum ist sein solches Verhalten eigentlich geregelt: Es gibt Rituale, es gibt Vergebung – lauter schöne Wörter. Aber man merkt, wenn man diese Wörter nicht mehr versteht, dann beginnt eine Verrohung des Umgangs. Da sind, denke ich, die Kirchen die Richtigen, die dazu etwas sagen können. Das Christentum und die Kirche beschäftigen sich mit dem, was alle Menschen angeht. Und das Phänomen der Digitalisierung aller Lebensbereiche geht alle Menschen an, weil es die gesamte Kommunikation verändert. Wer ist ein Global Player, wenn nicht die Kirche?
Es geht in dem Papier ja um "Chancen und Gefahren der digitalen Kommunikation". Man hat beim Lesen den Eindruck, dass sehr viel mehr von Gefahren wie Überwachung, Überforderung, Datenklau die Rede ist als von Chancen wie Partizipation, Teilen, "Wir-Gefühl" oder auch Gemeinschaft und Verkündigung. Hat die Kirche Angst vor dem Internet?
Haberer: Noch nie! Das Internet ist soweit ich das überschaue, das einzige Medium nach dem Buchdruck, das beide Kirchen begrüßt haben. Ich denke, gerade die evangelische Kirche – und ich gehöre dazu – hat das Internet begrüßt als ein zutiefst protestantisches Medium, eines, das Partizipation ermöglicht, das es den Menschen ermöglicht, ihre Meinung zu bilden und zur Diskussion zu stellen. Es gibt eine ganze Menge Papiere von einzelnen Kirchen zu Thema "Wie gehen wir mit dem Internet um?", Leitlinien und Entwicklungsmöglichkeiten. Wir in Bayern gehörten ja zu den ersten, die zum Beispiel "Vernetzte Kirche" aufgebaut haben.
Dass wir jetzt mehr die Gefahren ansprechen, muss man vielleicht von der Entstehungsgeschichte dieses Papiers her erklären. Als wir vor ungefähr zwei Jahren anfingen, wurde gerade die Snowden-Geschichte publik, und wir fragten uns: Was bedeutet es eigentlich, wenn dieses so wunderbar partizipative Netz zu seinem Gegenteil verkehrt wird? Wenn es monopolistisch ausgenutzt wird und Teil einer Überwachungskultur wird? Oder einer Kultur, in der wir rein als Kunden angesehen, profiled und ausgewählt werden? Es war eigentlich geplant, das Netz sehr viel stärker von seinen Chancen her zu betrachten, aber das wurde angesichts der öffentlichen Diskussion immer problematischer. Plötzlich wurde uns bewusst: Dadurch, dass die Besitzverteilung im Netz sich völlig verändert hat, ist dieses Netz ein anderes geworden. Es gibt nun Monopolisten, die Eigentümer unserer Daten sind.
Vielleicht haben die Kirchen nicht früh genug selbst die Möglichkeiten des Internet genutzt?
Haberer: Das war immer meine Kritik: Die Kirchen haben das Netz als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit und Selbstdarstellung benutzt. Durchgesetzt haben sich Ideen wie "Darf ich mal dem Bischof schreiben?" als ein wunderbares Instrument, sich bekannt zu machen und als Personen greifbar zu werden. Die anderen Ideen, dass man Fragen beantworten kann, dass man selbst Communities oder Gemeinden bilden kann, wurden zu spät ausprobiert.
Meinen Sie, es wäre zu spät? Sie schreiben ja auch viel Begriffe wie "sozialer Raum", "Gemeinschaft" und "Kommunikation" vor. Man könnte doch das Internet wirklich für die Kommunikation des Evangeliums nutzen, man könnte Gottesdienste im Internet feiern….
Haberer: Sie haben Recht. Aber uns schien es zu diesem Zeitpunkt wichtiger, uns den gesellschaftlichen Themen und weniger der Frage der Verbreitung des Evangeliums zu widmen. Die Fragen sind: Was passiert mit der gesammelten Kommunikation, die auf den Kopf gestellt wird? Sämtliche Wissenschaftler in der Welt können noch nicht fassen, was das für unsere Demokratien bedeutet, was es für die Mitbestimmung in den politischen Dynamiken bedeutet, was es für die Parteien bedeutet. Und vor allem: Was es für die Rechtsgrundlage des Datenschutzes bedeutet. Die große Formel, sozusagen das erste Gebot des Datenschutzes besagt: "Du musst wissen, was andere über dich wissen." Grundsätzliche Rechtsnormen von Privatsphäre sind mittlerweile vollkommen ausgehöhlt, ohne dass jemand sich darüber aufregt. Deswegen haben wir in dem Papier vom "Menschenrecht auf ein Geheimnis" gesprochen.
"Menschenrecht auf ein Geheimnis" – welches christliche Menschenbild steht dahinter?
Haberer: Als Christen gehen wir davon aus, dass es in jedem Menschen Räume gibt, die er nur mit Gott teilt, zu denen nur Gott Zugang hat. Nehmen Sie zum Beispiel das Ritual des Betens oder der Beichte - oder auch einfach die ganz eigenen Gedanken, Träume, Pläne und Vorstellungen. Es ist Teil der menschlichen Würde, dass er von außen weder beobachtet noch berechnet werden kann. Dem steht eine Technologie entgegen, die versucht, das Verhalten zu berechnen. Sie kennen vielleicht diese Geschichten: Der Vater von einem unmündigen Mädchen bekommt zugeschickt "Gratuliere, Ihre Tochter bekommt ein Kind", und sie wusste es selber gerade seit zwei Tagen und war noch nicht in der Lage, das überhaupt selbst zu verarbeiten, geschweige denn ihren Eltern zu sagen. Ich frage mich: Wie kann es sein, dass ein Algorithmus so etwas errechnet? Google weiß plötzlich, dass das Mädchen schwanger ist, ermittelt den Vater und sagt ihm Bescheid. Es gehört zur Würde des Menschen, dass sein Geheimnis erst einmal gut aufgehoben ist. Dass er selbst entscheidet: Wem sag ich's? Und wem sag ich's als erstes?
"Eine weltliche und irdische Macht, die nicht kontrollierbar ist, ist nicht nur gefährlich, sondern auch nicht in Gottes Sinn."
Was würden Sie dem einzelnen Internetznutzer empfehlen? Die meisten benutzen das Netz doch jeden Tag, man braucht es zur Recherche, man bewegt sich in den sozialen Netzwerken…
Haberer: Ich bewege mich nicht auf Facebook und ich bewege mich nicht auf Twitter, weil die Bilder und die Texte, die man einstellt, Facebook gehören. Das Recht auf alles, was ich da reinstelle, gehört mir nicht mehr. Sogar wenn Sie ein Testament machen und Ihren Kindern die Zugangswörter mitteilen, können Ihre Kinder Ihr Profil nicht löschen. Das sind doch Grundbestandteile einer lange erarbeiteten westlichen Zivilisation: dass ich die Dinge, die mir persönlich eignen, testamentarisch jemand anderem gebe, und nur dieser Mensch hat Zugang.
Dem Einzelnen würde ich also empfehlen, möglichst wenig in den sozialen Netzwerken preiszugeben oder sie nur zur Arbeit zu nutzen. Die meisten Leute, die ich kenne, machen dort mit, aber ich nehme auch bei den Jüngeren einen Rückzug aus den sozialen Netzwerken wahr, weil immer mehr klar wird, dass das ein unsicheres Terrain ist. Sogar der neue Google-Vorstandsvorsitzende Eric Schmidt sagt ganz klar: "Da Informationen dazu tendieren ans Licht zu kommen, sollten Sie also nichts abspeichern, das Sie nicht irgendwann in einer Anklageschrift oder auf der Titelseite einer Zeitung lesen wollen." (Zitat aus: Schmidt, Eric/Cohen, Jared: Die Vernetzung der Welt. Ein Blick in unsere Zukunft. Rowohlt 2013).
Ich finde, es ist eine theologische Aufgabe, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass diese Internet-Firmen zu viel Macht haben. Von Eric Schmidt stammt auch das Zitat "Das Web wird alles sein und nichts... Ich denke, wenn wir es richtig angehen, können wir alle Probleme der Welt lösen", und Apple-Gründer Steve Jobs hat gesagt, man werde eine "Delle ins Universum" machen. Einerseits stecken im Internet ungeheure Möglichkeiten, wie zum Beispiel, dass Menschen in Afrika plötzlich ihre Sachen selber verkaufen können und nicht auf Zwischenhändler angewiesen sind. Der Punkt ist nur, dass das Netz wenigen Firmen gehört. Wir haben als Theologen aus dem Alten und dem Neuen Testament gelernt: Eine weltliche und irdische Macht, die nicht kontrollierbar ist, ist nicht nur gefährlich, sondern auch nicht in Gottes Sinn.
Sie haben jetzt gut vorgelegt von Seiten der Bayerischen Landeskirche und der FAU. Das Impulspapier soll nun weiter diskutiert werden, auch hier auf evangelisch.de. Was versprechen Sie sich von der Diskussion und wie geht es dann weiter?
Haberer: Ich verspreche mir davon zunächst eine Aufmerksamkeit von Christen auf dieses Thema. Mir wurde von vielen Leuten gesagt, es sei zu früh, um es in synodalen Kreisen zu diskutieren, weil die Leute noch zu wenig davon verstehen. Auf der anderen Seit finde ich es an vielen Stellen zu spät, weil die Entwicklungen schon so weit fortgeschritten sind. Wir als Redaktionsgruppe und als bayerische Landeskirche finden, dass es zunächst ein Wahrnehmungsruf sein soll an die christlichen Gemeinden, an die Pfarrer, sich mit diesen Phänomenen auseinanderzusetzen. Sie sollten anfangen nachzudenken: Wie kommunizieren wir? Wie können wir hier eine bestimmte Art von christlicher Kommunikation einführen? Was bedeutet es für meine Gemeinde? Wie muss ich eigentlich im Netz anders kommunizieren als in anderen Öffentlichkeitsinstrumenten? Und was muss die Kirche selbst in ihrem eigenen Umgang mit dem Netz beachten? Deshalb stehen auch eine Menge von Selbstverpflichtungen in unserem Impulspapier.