Das Internet und die digitale Kommunikationstechnik geben den Menschen scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten des Mitredens, der Meinungsäußerung, der Information und der Verbindung. Auf Zeitungs-Websites, in Weblogs und in Foren gibt es die Möglichkeit, zu kommentieren, sich einzubringen, andere Sichtweisen zu äußern oder Fehler zu korrigieren. Auf Video- und Fotoseiten können kreative Werke geteilt, andere Filme und Bilder kommentiert und beurteilt werden. Nutzer können mit eigenen Schöpfungen antworten oder einen kreativen Gedanken weiterführen. Bilder, Hörbeiträge und Videos transportieren Werte, regen an – auch zum Nachmachen und Verändern. Social Media schließlich gehen von der Idee sozialer Verbindung als "Freundschaft" aus und erschließen von dort aus sämtliche Kommunikationspotenziale des Internets.
Deutlich ist, dass die neue Kommunikationswelt weder gefahrlos, unkontrolliert, unreguliert noch machtfrei ist. Die Attraktivität der medialen Äußerungsmöglichkeiten für jedermann wird von so genannten Sirenenservern (Jaron Lanier) bereitgestellt, die ihrerseits ökonomische Interessen haben. Der Umstieg auf eine partizipative Kultur ist also – anders als die Visionen der frühen Netzakteure es nahelegten – nicht per se die Befreiung von Macht und ökonomischen Zwängen. Internetangebote, die diese Partizipation ermöglichen, entstehen unter Einsatz von Kapital, das Rendite erwirtschaften soll.
Potenziale des Missbrauchs: Waffen-, Menschen- und Drogenhandel
Eine neue und mächtige Ökonomie ist entstanden, in der marktbeherrschende Unternehmen zu wirtschaftlichen Zwecken Technologie, Geräte, Software und kommunikative Angebote entwickeln, pflegen und kontrollieren. Staaten nehmen Einfluss auf die Entwicklung des Internets, verschiedene Rechtsbereiche geraten unter Anpassungsdruck. Geheimdienste interessieren sich für die Daten und realisieren Totalüberwachungsprogramme in ungeheuerlichen Ausmaßen.
Unsere Kommunikationsdaten und persönlichen Dokumente – in Clouds gesammelt – stehen immer mehr im Zentrum von ökonomischen und politischen Interessen. Über Handelsabkommen sollen Europas vergleichsweise rigide Datenschutzbestimmungen aufgeweicht werden. Denn es sind die Daten, die die Wirtschaft der Zukunft antreiben, der Kampf um die besten Plätze hat längst begonnen. Im neuen Paradigma der digitalen Ökonomie drohen informationelle Selbstbestimmung und Autonomie auf der Strecke zu bleiben. Wer die Daten hat – seien es wenige große Netzanbieter oder Staaten – hat die Kontrolle über Menschen. Es bilden sich Monopole der Überwachung und Kontrolle. Sie gefährden die Selbstbestimmung des Menschen und die emanzipativen Potentiale einer freien Kommunikation in den Netzen. Wahrzunehmen ist auch, dass sich User zu kriminellen Vereinigungen zusammenschließen und neue Formen von globaler Cyberkriminalität entwickeln.
Neben den Kommunikationschancen liegen ebenso große Potenziale des Missbrauchs, wie etwa der Diebstahl von Milliarden von Daten. Im für nationale Ermittlungsbehörden nur schwer zugänglichen Darknet ist es nahezu ungehindert möglich, unklare Banktransaktionen, Terrorismus, Bandenkriminalität, Waffen-, Menschen- und Drogenhandel zu betreiben.
Unternehmen, die historisch ihresgleichen suchen
Die veränderte Kommunikationswelt ist eine ambivalente Welt. Analog zur Beteiligungskultur im Zuge der Reformation hat die Vervielfachung von Beteiligungschancen für alle Menschen eine emanzipatorische Qualität. Die Möglichkeit, die eigene Stimme zu erheben, sich mitzuteilen, ohne darauf zu warten, dass einem von einer Autorität das Wort erteilt wird, entspricht einem christlichen Menschenbild, das die konkrete Person mit ihren Erfahrungen und Wünschen in den Mittelpunkt stellt. Anders gesagt: Die Beteiligungskultur der digitalen Gesellschaft ist ein Möglichkeitsraum für Praktiken der Autonomie.
Die Zivilgesellschaften müssen allerdings darauf hinarbeiten, dass eine gerechte Beteiligung am Zugang zu den digitalen Räumen gewährleistet ist. Menschen werden dem Anspruch der Freiheit oft nicht gerecht. Missbrauch von Freiheit zeigt sich im Abbruch von Kommunikation, in zerstörtem Vertrauen und in Verletzungen menschlicher Würde. Aus christlicher Perspektive geht es darum, wie mit der eigenen Schuldanfälligkeit im Gebrauch unserer Freiheit und mit denjenigen Menschen umzugehen ist, die diese Freiheit missbrauchen. Dabei darf der Mensch durch Schuld nicht seine Menschenwürde verlieren. Auch wenn jemand moralisch fehlt, verwirkt er nicht seine Menschlichkeit.
Dass Freiheit prekär ist, wird daran offensichtlich, dass die modernen medialen Freiheitsmittel für Milliarden Menschen von einigen wenigen Unternehmen kontrolliert werden. User liefern sich den Unternehmen aus, bezahlen die angebotenen Dienste mit ihren Daten. Daten, die zu Person gehören, und Daten, die im Zuge unserer Kommunikation anfallen, sind bares Geld wert. Mit den Daten haben einige wenige Unternehmen Gelegenheit, datenbasierte Imperien zu schaffen, die historisch ihresgleichen suchen.
Schutzansprüche wie das Fernmelde- und das Briefgeheimnis
Damit beschreitet man allerdings bereits wieder ökonomisch vorbereitete Pfade. Moderne Menschen merken nicht mehr, wie sehr sie inzwischen an den Deal gewöhnt sind, dass das Tor zur Kommunikation nur aufgeschlossen wird, wenn Daten preisgeben werden. Wir sind nicht mehr weit davon entfernt, dass jede Kommunikation von – immer stärker personalisierten – Werbeeinblendungen begleitet wird. Die Datenökonomie[MM9] als Paradigma für sämtliche Kommunikations- und Medienprodukte führt dazu, dass Kommunikation und Medienrezeption in einer ökonomischen, datengetriebenen Infrastruktur stattfinden.
Im Netz entstehen politisch, ideologisch und ökonomisch motivierte, zudem höchst ausgeklügelte Strukturen der Überwachung und Kontrolle, mit deren Hilfe einige wenige sich ausrechnen können, was viele andere morgen wollen, tun und benötigen. Die allgegenwärtige digitale Erfassung, Aggregation und Auswertung von Daten lässt den Bürger zum vorhersehbaren Menschen. Diesen Interessen von einigen großen Internetunternehmen sowie Marketing- und Werbeagenturen liegt ein verzwecktes Menschenbild zugrunde, in dem der Mensch auf seine Rolle als Konsument und Datenlieferant reduziert wird. Die Autonomie des Menschen, auch in ihrer politischen Form der Demokratie, droht im Zuge dessen zu einer leeren Formel zu werden. Die Freiheitsversprechen moderner Kommunikationsmedien führen an ihrer Rückseite massive Einschränkungen und Steuerungen unserer Kommunikation mit sich. Dazu zeichnet sich die Gefahr eines nicht mehr neutralen Netzes ab, in dem sich Lobbyisten und Monopolisten die Vorfahrt in den Netzen sichern und damit noch weitere Steuerungspotenziale aneignen. Dem ist mit der gesetzlichen Sicherung der Netzneutralität entgegenzutreten.
Die Freiheitsperspektive fordert: Gebt denjenigen, die kommunizieren, die Macht und Kontrolle über die Mittel, mit denen sie dies tun. Der grundgesetzliche Schutz der Persönlichkeitsrechte vor den Eingriffen Fremder, insbesondere vor denen staatlicher Institutionen, ist ein bedeutsames Erbe aus den Erfahrungen mit dem Überwachungsstaat der Nationalsozialisten wie auch des SED-Regimes. In der Bundesrepublik Deutschland besteht daher traditionell eine hohe Sensibilität im Umgang mit den persönlichen Sphären der Bürger. Dem entsprechen grundgesetzlich garantierte Schutzansprüche wie das Fernmelde- und das Briefgeheimnis.
Angetrieben durch eine alarmistische Sicherheitsideologie
Dem Schutz der Privatsphäre des Bürgers vor den Einblicken Dritter steht die Transparenz öffentlicher Institutionen gegenüber. Politische und staatliche Institutionen sind rechenschafts- und auskunftspflichtig – unbeschadet der Geheimhaltung rund um die nationale Sicherheit.
Im Rahmen einer christlichen Weltanschauung gilt die Wahrung des persönlichen Geheimnisses als heilig. Das Institut der Beichte und die Schweigepflicht über seelsorgerliche Gespräche sind Zeichen der christlichen Überzeugung, dass es Bereiche im Leben eines jeden Menschen geben muss, die ihm alleine gehören und die ein Geschöpf nur mit seinem Schöpfer teilen möchte. Der Mensch hat in der christlichen Vorstellung ein göttlich verbrieftes Menschenrecht auf sein Geheimnis. Diese Tatsache wird in der staatlichen Rechtsordnung durch das Zeugnisverweigerungsrecht von Geistlichen der christlichen Konfessionen abgebildet.
Der Respekt vor dem Geheimnis des Einzelnen – säkular gesprochen: der Schutz der Privatsphäre – ist allerdings in Gefahr, verloren zu gehen. Sicherheitsbehörden, selbst westlicher Staaten, nutzen – nach eigenem Bekunden zum Schutz der Freiheit – Daten, um beispielsweise "Noch-Unschuldige" vor dem durch Data-Mining errechneten Begehen einer Straftat zu identifizieren. Die Folge: Es werden möglichst alle Daten gespeichert, derer man habhaft werden kann. Es ist nicht zu übersehen, dass mit den Möglichkeiten digitaler Datensammlung und Datenvernetzung, angetrieben durch eine alarmistische Sicherheitsideologie, elementare Rechtsprinzipien bereits ausgehöhlt und ausgehebelt sind.
Die berechtigten Sicherheitsinteressen des Staats, seiner Behörden und Geheimdienste, dürfen nicht uferlos ausgeweitet werden. Es bedarf neuer, demokratisch kontrollierter Prozesse für den Datenzugriff durch die staatlichen Sicherheitsbehörden. Derzeit aber dreht sich das Verhältnis um: Staatliche Stellen verlangen von den Bürgern immer mehr Transparenz und verschaffen sich Zugang zu deren persönlichen Daten, werden aber dabei selbst immer intransparenter, wie das Beispiel der Geheimdienste zeigt, bei denen die demokratische Kontrolle bereits zu versagen scheint.
Der christliche Glaube sagt, dass Gott das Geheimnis der Welt ist und dass er dem Menschen mit Liebe in sein Innerstes blickt. Gott ist demnach die einzige Instanz, vor der ein Mensch freiwillig transparent sein möchte. Zur Freiheit eines Christenmenschen gehört der Freiraum und Schutz seiner inneren Sphäre.
Selbstverpflichtungen der ELKB
1. Die ELKB sorgt bei ihren Beratungsdiensten und medial gestützten seelsorgerlichen Angeboten für IT-Sicherheit auf höchstem Niveau. Sie prüft die Einhaltung des besonderen Schutzes ihrer Geistlichen vor Überwachung auch innerhalb der eigenen Institution.
2. Die ELKB arbeitet mit an der Entwicklung einer Kultur der Vergebung, die das Vergessen nicht braucht und Menschen ermöglicht, sich zu verändern und neu zu erfinden.
Politische Forderungen
1. Die ELKB schließt sich all denjenigen an, die die Datensouveränität und informationelle Selbstbestimmung stark machen. Die ELKB setzt sich dafür ein, dass Politik aus den grundrechtsbedrohenden Konsequenzen der Digitalisierung ein Politikfeld macht.
2. Im Namen einer freien Kommunikationskultur fordert die ELKB eine couragierte Netzpolitik und den Aufbau eines Politikfelds als Querschnittsthema aller Ministerien. Die ELKB unterstützt politisch die Initiativen, die eine digitale Zivilgesellschaft organisieren wollen (z.B. durch den Aufbau von Stiftungen). Die ELKB verbündet sich mit allen, die für Netzneutralität und IT-Sicherheit einstehen.
3. Die ELKB fordert den europäischen Gesetzgeber auf, die vornehmlich amerikanischen Netzanbieter auf restriktivere Datenschutzbestimmungen zu verpflichten. Das beinhaltet auch, dass der User Eigentümer der Rechte an den von ihm kommunizierten Inhalten ist und dass er die Verwertungsrechte den Netzunternehmen jederzeit und auf unkomplizierte Weise wieder entziehen kann.
4. Die ELKB fordert zudem die Verpflichtung zu einer proaktiven Information des Nutzers über die (Weiter-)Verwertung seiner Daten. Sie begrüßt die Debatte über das "Erinnern" und "Vergessen" im Netz, die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen einerseits und das Recht auf Information der Öffentlichkeit andererseits, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat.