Kapitel 2: Selbstoptimierung und Gnade – das vernetzte Selbst
Das Netz als sozialer Raum: Kommunikation und Gemeinschaft im digitalen Zeitalter
Dieses Impulspapier will ein Beitrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) zur Zivilisierung der digitalen Welten sein.
25.08.2015
Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Bayern
A. Filipovi?, J. Haberer, R. Rosenstock, I. Stapf, S. Waske, T. Zeilinger

Das Netz eröffnet neue Chancen, menschliche Gemeinschaft zu organisieren, in Verbindung zu bleiben sowie neue Arten von Wir-Gefühl zu entdecken und zu leben. Durch die internetbasierte Digitalisierung entstehen neue Räume gemeinsam geteilter Bedeutung und wechselseitiger Anerkennung. Sowohl die Kommunikation in den Social Media wie die gemeinsame Zusammenarbeit in Online-Projekten und auf Online-Plattformen öffnet Möglichkeiten sozialer  Verbundenheit, die deutlich machen, dass die Anderen die Bedingung der Möglichkeiten des Selbst sind. Das heißt: Wir brauchen den Anderen, damit wir uns weiterentwickeln können und unser Menschsein in Fülle leben können. Diese Verbindung von "Ich und Du" zu einem "Wir" erhält durch das online konstruierte Netz neue Perspektiven. Dies gilt für die Privatsphäre ebenso wie für die Arbeitswelt, zumal sich beide im heutigen Life-Mix untrennbar vermischen.

Auch Glaubens- und Wahrheitssucher bilden Netzwerke, in denen sie sich nicht nur austauschen und über unterschiedliche Angebote auf dem religiösen Weltmarkt debattieren – sondern sich auch in der Regel von den traditionellen Institutionen emanzipieren. Dieser komplexen Vielfalt an Möglichkeiten räumlicher Entgrenzung und die Verschiedenheit der Welten persönlich zu erfahren und so seinen Horizont zu erweitern, stehen die Gefahren der Selbstbegrenzung und Selbstbezogenheit gegenüber.

Eigenen Lebensgeschichte medial konstruieren

Als "Lock-in" wird das Phänomen beschrieben, dass sich Menschen im Internet häufig in Nischen ähnlicher Meinungen, Erfahrungen und Interessen zurückziehen. Im Kreis der Gleichgesinnten stehen die eigenen Anschauungen und Überzeugungen in einem Kreislauf permanenter Selbstbestätigung. Aus einem kreativen Austausch, der gedankliche Experimente zulässt und wertschätzt, wird ein widerspruchsfreier Raum, dessen Nutzer sich der Aufgabe zu argumentieren entziehen. Diese widerspruchsfreien Nischen sind einer demokratischen Kultur abträglich. Hier wird sichtbar, dass die immer weitere Vernetzung von Einzelnen nicht die Rettung vor Vereinzelung und Einsamkeit ist.

Neben der Gefahr, sich in Nischen der Selbstbestätigung zurückzuziehen, ist durch die Social Media zudem ein – der Logik der Algorithmen geschuldeter – Trend zur Selbstbezüglichkeit festzustellen. Der bereichernde, mitunter auch irritierende Austausch mit anderen verkommt in den Social Media bisweilen zum Wettbewerb der Selbstdarstellungen. Dauernde Selbstkontrolle zwingt die User in eine Dynamik der permanenten Selbstoptimierung.

Dabei liefern die Social Media den Netzunternehmen nicht nur detaillierte persönliche Daten, sondern sie laden ihre Nutzer auch dazu ein, die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte medial zu konstruieren und die so erzählte und bebilderte Narration eines Menschenlebens für ein größeres Publikum öffentlich zu gestalten. Dieses Publikum kann dann die Erlebnisse, Erzählungen und Bebilderungen unmittelbar liken, kommentieren, beurteilen oder verurteilen. Biografien werden so online gemanagt und betreut. Die analoge Lebensbegleitung durch Familie und Gemeinde tritt dabei in den Hintergrund.

Permanente Messung der Lebensleistung

Studien zur sozialen Entwicklung von netzaffinen Jugendlichen zeigen, dass diese aus den sich neu eröffnenden Kommunikationsmöglichkeiten zunehmend ein Instrument der Selbstvermarktung machen. Damit wird eine außengesteuerte Selbstoptimierung befördert. Dies bindet Ressourcen zur kritischen Reflexion der eigenen Biografie, die ein Mensch für seine Persönlichkeitsentwicklung braucht. Die Sozialisation von Jugendlichen und die Entwicklung von Biografien werden so unter das Primat des Selbstmarketings gestellt.

Die Reformation war auch ein Aufstand gegen die tödliche Logik der Selbstvervollkommnung durch permanente Selbstüberwachung und Dauervermessung der individuellen Leistung im Rahmen der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur.

Die netzgestützten Sicherheits- und Gesundheitsgarantien können in Analogie dazu gesehen werden. Menschen finden ihre Erfüllung in der permanenten Messung der Lebensleistung und dem Trend zur Selbstoptimierung. Die digitale Technik mit ihren unendlichen Möglichkeiten der Datenvernetzung hat Programme hervorgebracht, die in der Lage sind, eine große Menge von Daten alltäglicher sozialer Aktivitäten und zunehmend auch körperlicher Gesundheitsdaten miteinander in Beziehung zu setzen.

Attraktiv, gesund und wohlorganisiert

Wo Internetunternehmen unterschiedliche persönliche Daten der User benutzen und meist ohne deren Wissen vernetzen und weiterverwerten, ergibt sich – neben den zweifellos attraktiven Möglichkeiten zur Kommunikation und zur Selbststeuerung der eigenen Lebensführung – die Gefahr missbräuchlicher (Weiter)-Verwendung, die tief in die persönliche, intime Sphäre des Einzelnen eingreifen kann. Dieser Trend wird ergänzt durch die technischen Möglichkeiten, detaillierte Körperdaten des Einzelnen zu erheben und mit anderen zu vergleichen.

Gleichzeitig können auch Arbeits- und Ruhephasen quantitativ nachvollzogen und individuell dargestellt werden. Dies befördert den Trend zur körperlichen Selbstoptimierung und zur Optimierung des Zeitmanagements, die eine datengestützte 24-Stunden-Selbstüberwachung des Einzelnen ermöglicht. Diese Überwachung der Lebenserzählungen in den Social Media einerseits und andererseits die Möglichkeit, sämtliche Körperfunktionen zu überwachen bzw. die persönliche Arbeitsleistung permanent zu quantifizieren, sind im Bewusstsein der User zugleich verbunden mit anzustrebenden Norm- oder Sollwerten. Es wird dem Einzelnen möglich, im permanenten Vergleich mit eigenen und fremden Leistungsparametern die Optimierung der eigenen Biografie bzw. der Körper- und der Arbeitsleistung zu überwachen und anzupassen. Digitale Techniken, omnipräsent, unauffällig und situationsgerecht eingesetzt, drohen so, zu dominanten Faktoren in der Alltagsgestaltung von Individuen zu werden.

Die Chancen dieser Techniken des Selbstmarketings und der digitalen Selbstüberwachung liegen in der Möglichkeit, das tägliche Verhalten permanent in der Peergroup zu spiegeln und mit dem Feedback anderer zu leben. Es befähigt die Einzelnen, sich selbst mit Zielen zu versehen, zu analysieren, dadurch besser zu verstehen und so das eigene Leben – scheinbar selbstgesteuert – attraktiv, gesund und wohlorganisiert zu gestalten.

Sog der Selbstbezüglichkeit

Im Kontext einer auf Wettbewerb ausgerichteten Gesellschaft und immer stärker datengestützten und quantifizierten Beobachtungsprozessen können diese digital vermittelten Überwachungstechniken ihre Anwender allerdings auch in einen Sog der Selbstbezüglichkeit treiben. Dazu kommt, dass die im Wettbewerb erzeugte soziale Kontrolle allgegenwärtig wird und sich ein Klima des sozialen Anpassungsdrucks ausbreitet. Zudem haben interessierte Akteure – beispielsweise Versicherungen oder Arbeitgeber – bereits damit begonnen, auf die Gesundheits-, Arbeits- und Lebenshaltungsdaten der Einzelnen zuzugreifen und ihre Zuweisungen und Leistungen von solchen Leistungsdaten abhängig machen.

Das religiöse Streben, ein "besserer" Mensch zu werden, sich selbst und die Welt zum Guten hin zu verändern und die Lebensfreundlichkeit Gottes spürbar werden zu lassen, gerät – säkularisiert – zu einem innerweltlichen und alltäglichen Leistungsdruck der permanenten Konzentration auf sich selbst, des ständigen Vergleichs mit anderen und des sozialen Drucks – kurz, zu einer Art Selbst-Tribunalisierung. Dabei werden Lebensvollzüge normiert und moralisiert, "Unpassende" oder "Unangepasste" werden gesellschaftlich markiert.

Aus der reformatorischen Überzeugung von der grundsätzlichen Annahme und voraussetzungslosen Rechtfertigung jedes einzelnen Lebens entsteht – frei von Druck und Wettbewerbssystemen – die Freiheit, für andere und für die Gesellschaft Leistungen zu erbringen, auf sich selbst zu achten und vor allem, sich mit den je originellen Begabungen in das Leben der Gemeinschaft einzubringen. Die algorithmischen Logiken der Normierung durch Wettbewerb, Datenvernetzung und Datenüberwachung kommerziell interessierter Unternehmen setzen eine Dynamik der strukturellen Abhängigkeit in Gang. Ihr widerspricht die christliche Überzeugung der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnaden mit dem Glauben an einen fehlerfreundlichen Gott.

Tendenzen zur Selbstoptimierung und Selbstvermessung setzt der Glaube die Überzeugung entgegen, dass die wahre Freiheit in der Freiheit von der permanenten Selbstbeobachtung liegt. So wird der Blick offen für eine liebevolle Aufmerksamkeit für sich selbst und für andere. Denn nur, wer die der digitalen Beobachtung innewohnenden Gefahren begreift, kann ihre Chancen sinnvoll nutzen.

Selbstverpflichtungen der ELKB

1. Die ELKB sucht und führt den Dialog im Netz, um gemeinsam mit anderen Akteuren Gespräche und Diskussionen zu Themen des Glaubens zu führen.

2. Die ELKB unterstützt im Netz (ggf. exemplarisch) Kommunikationsformen, die auf gegenseitige Wahrnehmung und gemeinsames kommunikatives Engagement ("Kollaboration") zielen.

3. Die ELKB als Arbeitgeber fördert das Recht auf einen digitalen Sabbat, das heißt die Nichterreichbarkeit von Mitarbeitern in ihrer freien Zeit.

Politische Forderungen

1. Die ELKB fordert die Einhaltung der gesetzlich garantierten informationellen Selbstbestimmung sowie eine von Staat und zivilgesellschaftlichen Akteuren (Organisationen, Unternehmen) garantierte Transparenz über die Weitergabe und Verwendung persönlicher digitaler Daten. Der Auskunftsanspruch des Individuums gegenüber datenverarbeitenden Stellen ist politisch zu stärken und durchzusetzen.

2. Die ELKB fordert ein allgemein verständliches, selbstbestimmtes und skalierbares System zum Schutz der Privatheit, das von den einzelnen Nutzern individuell und flexibel angepasst werden kann.

3. Der Umgang mit den persönlichen Daten muss im Zuge einer "Netzsozialisation" in der schulischen Ausbildung und in der lebenslangen Weiterbildung ein Kompetenzfeld werden.