Sarah Müller sitzt am großen Tisch in der Wohngemeinschaft ihres Mannes Peter (beide Namen geändert) und isst zu Mittag. Seit Peter im Girardet Haus in Essen wohnt, verbringt die zierliche Frau mit blonden, kinnlangen Haaren dort ihre Nachmittage. Nach dem Essen schiebt sie ihren Mann im Rollstuhl heran, spricht und scherzt mit ihm. Er kann nicht antworten, zeigt aber durch Blicke, wie sehr er sich über ihre Aufmerksamkeit freut.
Peter Müller liegt seit 15 Jahren im Wachkoma. "Herzstillstand im Schlaf - mit 33, kerngesund", erklärt seine Frau knapp, wie es dazu kam. Heute wohnt er in einer WG für Menschen, die beatmet werden müssen. Er war der erste Bewohner in der WG des Pflegedienstes IntegraCura in Essen. Zuvor lebte er zehn Jahre in einem Heim, bis die dortige Wachkomastation geschlossen wurde. Die WG gibt es seit April 2013, inzwischen leben dort sechs Menschen zwischen 40 und 74 Jahren. Eine Etage höher wurde bereits eine zweite Wohngemeinschaft eingerichtet.
Ende 2013 lebten in Nordrhein-Westfalen fast 200 Menschen in 73 solcher Wohngemeinschaften, wie eine in diesem Jahr veröffentlichte Pilotstudie von Pflegewissenschaftlern der Universität Witten/Herdecke über Beatmungs-WGs ergab. Viele Betroffene leiden an schweren Lungenkrankheiten oder Erkrankungen des Nervensystems.
In der IntegraCura-WG können viele Bewohner nicht mehr ohne die Geräte leben, weil sie nach einer Operation oder einem Unfall reanimiert werden mussten und ihr Gehirn eine Zeit lang mit zu wenig Sauerstoff versorgt wurde. Nicht alle müssen ständig beatmet werden. Peter Müller bekommt zum Beispiel nur manchmal in der Nacht zusätzlichen Sauerstoff. Pro Schicht sind zwei bis drei Pfleger in der WG. Sie werden unterstützt von Versorgungsassistenten, die zum Beispiel putzen.
"Der Personalschlüssel ist viel besser als im Heim", erläutert Sarah Müller. Die Pfleger können über Kameras in den Zimmern kontrollieren, wie es den Bewohnern geht. Regelmäßig kommen Logopäden, Physiotherapeuten und ein Hausarzt vorbei. Besonders gefällt Müller die Atmosphäre: "Es ist einfach ein schönes Miteinander", sagt die 49-Jährige. So feiern Bewohner, Pfleger und Angehörige gemeinsam Feste wie Weihnachten und Geburtstage. Bei schönem Wetter geht Müller gerne mit ihrem Mann spazieren, ein Pfleger ist dann immer dabei.
Die Studie der Privatuniversität Witten/Herdecke im Auftrag des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums belegt eine große Zufriedenheit mit der Betreuung in den Wohngemeinschaften. Angehörige und Pflegekräfte sehen sie als sicher an und loben, dass die Bewohner dort weitgehend selbstbestimmt leben können. Die Wissenschaftler fordern aber verbindlichere Regeln für Beatmungs-WGs. "Wir haben dem Land angeboten, Qualitätskriterien zu erarbeiten", sagt Studienleiterin Christel Bienstein.
WG war die beste Lösung
Inzwischen legt das Wohn- und Teilhabegesetz zwar einige Anforderungen fest. Sie gelten aber nur für Wohngemeinschaften, die von einem Anbieter verantwortet werden, wie dies bei IntegraCura der Fall ist. Selbstverantwortete Wohngemeinschaften müssen bisher keine Auflagen erfüllen. Dies gilt etwa, wenn sich Angehörige zusammenschließen, eine Wohnung mieten und selbst einen Intensivpflegedienst beauftragen. Die Wissenschaftler fordern, dass die Angehörigen besser über ihre Rechte aufgeklärt werden. Dazu gehört beispielsweise ein Mitbestimmungsrecht, wenn ein neuer Bewohner einzieht.
Sarah Müller kann ihren Mann besuchen, wann immer sie will. Auch das gehört zum WG-Leben. Ein Leben, das allerdings nicht für jeden "technologieabhängigen" Menschen infrage kommt, wie IntegraCura-Geschäftsführer Christian Altmann betont: "Manchen sind ihre eigenen vier Wände einfach lieber." Für Sarah Müller war die WG die beste Lösung. Wenn sie ihren Mann zu Hause versorgen würde, könnte sie nie abschalten, sagt sie: "Hier sind wir gut aufgehoben."