Illustration: evangelisch.de/Simone Sass
Das Kruzifix-Urteil 1995 – Beginn eines Dammbruchs mit dramatischen Folgen?
Brachte der Entschluss des Bundesverfassungsgerichts 1995, dass Kreuze nicht in Klassenzimmer gehören, das Staat-Kirche-Verhältnis aus dem Gleichgewicht?

Am 10. August 1995, also vor zwanzig Jahren, veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht ein heftig umstrittenes Urteil. Wie schon im Mai zuvor bei ihrer mündlichen Verkündigung machten die Karlsruher Richter unmissverständlich klar: Die staatliche Vorschrift, in bayerischen Schulen ein Wandkreuz aufzuhängen, ist verfassungswidrig. Mit ihrem Urteil, juristisch korrekt ein "Beschluss", kassierten sie den Teil der Bayerischen Volkschulordnung von 1983, in dem es hieß: "In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten" (Paragraph 13, Absatz 1 der damaligen Schulordnung für die Volksschulen in Bayern).

Diesen Beschluss, angestoßen von drei anthroposophischen Schülern und ihren Eltern, verstanden viele als Angriff auf die geistigen Grundlagen des christlichen Abendlandes. So wetterte der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU):  "Kreuze gehören zu Bayern wie die Berge. Wer christliche Symbole aus der Öffentlichkeit verbannen will, trifft unsere Kultur in ihrem Lebensnerv. Wer das Kreuz abnimmt, schafft nicht Neutralität, sondern Leere."

Kardinal Joseph Ratzinger, damals noch Chef der vatikanischen Glaubenskongregation und erst später Papst, äußerte sich so: "Ich war natürlich empört, weil die Begründungen, meiner Meinung nach, sehr fragwürdig waren und weil ich davon überzeugt war und bin, dass bei uns doch noch so viel christliche Gemeinsamkeit besteht, dass dieses Zeichen in unseren Schulen wirklich einen Sinn hat." Es müsse, so der aus Bayern stammende Theologe, der Konsens der Mehrheit geachtet werden.

Zwanzig Jahre später lohnt sich eine Bestandsaufnahme: Hat dieses Urteil das Verhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften und dem Staat verändert? Sind die Kirchen aus ihrer faktischen Vorrangstellung verdrängt worden?

Kein anti-kirchlicher Dammbruch

Die Folgen dieses Urteils waren bei weitem nicht so dramatisch, wie damals von manchen befürchtet wurde. Ein antichristlicher Kulturkampf blieb aus. Denn das Urteil blieb bis heute weitgehend ohne praktische Folgen. Bayern hatte noch im selben Jahr, am 23. Dezember 1995, eine neue Bestimmung in das Bayerische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz eingefügt: "Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayern wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht" (Art. 7 Abs. 3 BayEUG, heute Abs. 4).

Das erscheint nur auf den ersten Blick als trotzig und unbelehrbar. In Wirklichkeit enthält das Gesetz neben dieser Festlegung auch eine Konfliktregelung, wie nämlich bei einem Protest von Eltern vorzugehen ist. Die bayerische Linie ist: Es bleibt das Wandkreuz so lange hängen, bis Eltern, Schüler oder Lehrer einen ernsthaften Protest dagegen anmelden und auf dem Klageweg die Entfernung durchfechten. Damit liegt die Beweislast bei den Kreuzesgegnern. Die werden es sich aber genau überlegen, ob sie sich die Mehrheit eines Lehrerkollegiums oder der Elternschaft zu Feinden machen wollen für den Fall, dass sie sich  durch den Anblick des Kreuzes erheblich beeinträchtigt sehen.

Manche Kritiker des neuen Schulgesetzes meinen, dass auf diese Weise das Karlsruher Urteil in unzulässiger Weise unterlaufen werde. Doch hat das neue Gesetz eine gewisse Logik: Wenn die Mehrheit der Schüler keinen Anstoß an einem Kreuz nimmt, dann wäre es unverhältnismäßig, dass sie aus Rücksicht auf (zweifellos berechtigte) Einzelmeinungen generell auf das Kreuz verzichten müssten. Das Kirchenrechtliche Institut der EKD formulierte damals in einer Stellungnahme für die Richter, die negative Religionsfreiheit besitze keinen Vorrang vor der positiven Seite dieses Grundrechts (zitiert nach dem Gerichtsbeschluss).

So weit die formaljuristische Seite des Streits, dessen Lösung selbst die konservativsten bayerischen Gemüter beruhigte. Interessanter ist die Frage, ob der Entschluss des Bundesverfassungsgerichts das Staat-Kirche-Verhältnis insgesamt aus dem Gleichgewicht gebracht hat oder er gar einem antikirchlichen Dammbruch gleichkommt. Davon kann nicht die Rede sein.

Es ist eine sinnvolle Ergänzung geltender Rechtsnormen, wenn in ihnen immer auch die Freiheitsrechte religiöser Minderheiten oder areligiöser Menschen mitgedacht wird. Die Zeit unhinterfragter und selbstverständlicher Kirchlichkeit ist vorbei. Die Gesellschaft ist zwar noch mehrheitlich, aber eben bei weitem nicht mehr durchgängig christlich. Auf diesen Sachverhalt stoßen Staat und Kirchen allenthalben.

So zum Beispiel beim Thema Kopftuch. Auch wenn die Muslime eine Minderheit in Deutschland sind, darf der Staat muslimischen Frauen das Tragen eines Kopftuches nicht pauschal untersagen. Streit gibt es aber regelmäßig in der Frage, ob eine Kopftuch tragende Lehrerin ihre Schüler in unzulässiger Weise beeinflusst. Hier konkurriert das Neutralitätsgebot einer Staatsdienerin mit dem Recht auf freie Religionsausübung. Auch dazu gibt es einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (vom 27. Januar 2015). Und auch hier greift wie beim Kruzifix-Urteil die Regel, die – einfach formuliert - lautet: Wer sich gestört fühlt, muss nachweisen, dass ihm vom Staat unerträgliche Zumutungen auferlegt werden. Das heißt: Schülerinnen und Schüler müssen im Einzelfall belegen, dass ihre Lehrerin den Unterricht missbraucht, um sie mit Absicht religiös oder politisch zu manipulieren. Die Schwelle ist hoch für ihre Ablösung, aber es ist grundsätzlich gut, dass es diese Interventionsmöglichkeit gibt. Ein pauschales Kopftuchverbot in öffentlichen Schulen ist hingegen verfassungswidrig.

Konfessioneller Religionsunterricht hat Verfassungsrang

Ist dieser Gerichtsbeschluss eine weitere Abwertung des traditionell großen kirchlichen Einflusses?  Nein, er ist nur eine Reaktion auf die zunehmende Öffnung der Gesellschaft. Wer befürchtet, dass die christliche Kultur zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben gedrängt wird, der führe sich vor Augen, wie vielfältig und erfolgreich Kooperationen zwischen Kirche und Staat in Deutschland ist: Konfessioneller Religionsunterricht hat in Deutschland Verfassungsrang.

Staat und Kirche teilen sich ihre Aufsicht. An staatlichen Universitäten studieren Theologen und Religionslehrer, die Lehrstühle werden vom Staat bezahlt (was in aller Regel sehr viel reibungsloser geschieht als bei vergleichbaren islamischen Theologieprofessoren). Die Kirchen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts (was den muslimischen Verbänden aufgrund ihrer Zerstrittenheit in absehbarer Zeit nicht gelingen wird). Militärseelsorger kümmern sich um die Soldaten. Konkordate (auf katholische Seite) und Staatskirchenverträge sichern das gute Einvernehmen beider Seiten.

Ein Wandkreuz oder ein Kopftuch mehr oder weniger wird daran nichts ändern. Dass das Bundesverfassungsgericht in mehreren Beschlüssen die religiöse Neutralität der Schulen eingeschärft hat, ist für die Schüler (und die Kirchen) nicht von Nachteil, sondern es kommt ihnen letztlich zugute. Es schärft ihnen ein, sich immer wieder neu und kreativ mit anderen Religionen auseinanderzusetzen, statt sich einfach auf überlieferten Rechten auszuruhen. Im Grunde fordert das Gericht von den Schulen nur ein, was sowieso ihr alltägliches Geschäft ist: zu diskutieren, zu streiten, nachzudenken, eigene rationale Positionen zu entwickeln. Die Gerichtsbeschlüsse beschädigen die Schulen also nicht, sondern sie machen sie stark für die Zukunft.