Die Kirche, die Bundesregierung und konservativ geprägte Menschen sollten vor Freude jubeln. Während bei uns mehr als jede dritte Ehe zwischen Mann und Frau scheitert, glauben viele Homosexuelle an diese Institution, messen ihr einen eigenen Wert bei und machen sich für sie stark. Denn wer heute heiratet, tritt schon lange nicht mehr automatisch auch vor den Traualtar.
In Frankreich gehen mittlerweile sogar 95 Prozent aller heterosexuellen Paare den zivilen Solidaritätspakt (Pacs), die "Ehe light" ein, ein Modell, das bis 2013 die einzige Möglichkeit für homosexuelle Paare darstellte, eine amtlich anerkannte Partnerschaft einzugehen. Nur noch fünf Prozent aller Mann- und Frau-Paare entscheiden sich für die klassische Ehe. Wer von einer Schwächung der Institution Ehe sprechen möchte, kann hier eine viel größere Gefährdung sehen.
Dabei ist das Engagement vieler Homosexueller für die Öffnung der "Ehe für alle" überhaupt nicht selbstverständlich. Vor nicht allzu langer Zeit wurden viele von ihnen, hauptsächlich schwule Männer, in unserem Land geächtet und ausgeschlossen: während der Zeit des Nationalsozialismus umgebracht, in der jungen Bundesrepublik verhaftet und bis zum 11. Juni 1994 mit dem Paragraph 175 kriminalisiert. Heute sind diese Grausamkeiten in Deutschland Vergangenheit, in anderen Ländern auf der Welt aber noch immer furchtbare Realität. Dabei wurden die Seelen vieler Homosexueller verletzt, auch in der Kirche.
Alte Wunden sitzen tief, zum Glück aber auch der eigene Glaube. Das Sehnen nach einem Leben mit Gott bleibt, andererseits ist die Angst vor Zurückweisung noch immer hellwach. Schluss mit dem Versteckspiel! Heute wollen viele gleichgeschlechtlich Liebende gleichberechtigt in ihrer Gemeinde mit Gottes Segen heiraten. Mutige queere und liberale Pfarrerinnen und Pfarrer und ehrenamtliche Kirchenmitarbeiter verwandelten dazu Sackgassen in Wege.
Obwohl sich die Mehrheit aller Deutschen für die Öffnung der "Ehe für alle" aussprechen, müssen Homosexuelle, die in einer Partnerschaft vor Gott Verantwortung füreinander tragen wollen, noch immer eine eingetragene Partnerschaft eingehen und in mancher Gemeinde auf Gottes Segen verzichten. Angela Merkel blockiert mit ihrem im Bundestagwahlkampf 2013 erklärten unguten "Bauchgefühl" die Gleichstellung von homosexuellen Paaren, gegen die Entscheidung des Bundessrats und gegen den Willen der meisten Unions-Anhänger. Dabei war die eingetragene Lebenspartnerschaft, eingeführt am 1. August 2001, für viele Homosexuelle eigentlich ein Meilenstein auf dem Weg zur Ehe. Die Angleichung hätte längst passieren müssen.
Heute, fast anderthalb Jahrzehnte später, wirkt diese immer noch beibehaltene Form des Sonderstatus diskriminierend. Noch immer trennen 150 Regelungen in 54 deutschen Gesetzen die eingetragene Lebenspartnerschaft von der Ehe. Deutschland ließ sich in der Entwicklung längst überholen. Das katholische Irland war jüngst der 20. Staat, der die Ehe geöffnet hat. Am 26. Juni 2015 ermöglichte auch das US-Verfassungsgericht die gleichgeschlechtliche Ehe in den Vereinigten Staaten.
Die Benachteiligung von queeren Menschen in Deutschland erweist sich in unserer globalisierten Welt zunehmend als wirtschaftlicher und auch als religiöser Standortnachteil. Bundespräsident Joachim Gauck macht klar, dass die Gleichstellung von Schwulen und Lesben heterosexuellen Paaren nichts wegnimmt. Er sagte am vergangenen Wochenende: "Wenn homosexuelle Menschen das gleiche Recht erhalten, in einer rechtlich verbindlichen Partnerschaft zu leben, gibt es ihnen die Chance, ein gleichwertiges Leben in Liebe und Partnerschaft zu führen." Ob Lesben, Schwule und Transgender in Zukunft stabilere Ehen als die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft führen werden, muss sich erst noch zeigen. Die Erfahrung aber müssen sie, müssen wir, machen dürfen, und zwar in guten wie in schweren Tagen.