"Entschuldigen Sie, habe ich das richtig verstanden, sind Sie wirklich lesbisch?
Sie sehen so normal aus!"
Wie mich diese und ähnliche Fragen müde machen. Ich will sie nicht mehr hören. Ich will sie nicht mehr beantworten. Ich will mich nicht mehr erklären oder rechtfertigen müssen, immer und immer wieder.
Viele queere Personen kennen diese Fragen und Kommentare. Deshalb überlegt sich auch jede einzelne queere Person genau, was sie wem, wann und wo sagt. Die mitlaufenden Check-Fragen: Ertrage ich die Reaktion, so wie ich gerade "drauf bin"? Kann ich die Kommentare aushalten, egal wie sie lauten? Kann ich gelassen bleiben? Kann ich mich distanzieren? Viele schweigen deswegen immer noch.
Als ich 20 Jahre alt war, hat dieses Schweigen dazu geführt, dass ich keine anderen queeren Personen kannte. Ich wusste nichts von ihnen. Ich wusste lange auch nichts von mir. Es gab keine Sprache, keine Worte, keine Bilder. Ich blieb stumm und suchte nach mir, ohne mich so recht zu finden. Ich war irgendwie anders. Aber warum und wie genau, wusste ich nicht.
An der Universität in Hamburg hörte ich endlich Worte und sah Bilder, die mir halfen, mich besser zu verstehen. Ich bin lesbisch, ach so ist das! Auch wenn ich nicht glücklich war mit den negativen Assoziationen, die der Begriff in mir auslöste. Lesbisch war besser als kein Wort, um meine Gefühle auszudrücken. Seitdem konnte ich mich besser verstehen, meine Emotionen besser einordnen, und ich fand endlich Gleichgesinnte, mit denen zusammen alles einfacher wurde. Ich übte mein Coming-out vor mir selbst und später vor anderen und erhielt darauf unterschiedliche Reaktionen. Die einen schienen vor mir zu wissen, dass ich lesbisch bin, andere waren erstaunt und wollten alles darüber wissen, wieder andere reagierten abwehrend oder sogar abweisend wie mein Vater. So oder so musste ich mich von da an damit herumschlagen, wann und wo ich wem etwas von mir erzählte oder eben nicht.
Als offen lesbisch lebende Pfarrerin in den ersten Berufsjahren in einer Kirchengemeinde taten mir einige Reaktionen von Gemeindegliedern viele Jahre später weh. Im Konfirmandenunterricht, in der Schule, in Gruppen und Kreisen fragte ich mich immer wieder: Zeige ich, wer ich bin und was mein Leben ausmacht, um glaubwürdig sprechen zu können oder lasse ich es lieber, um andere nicht zu schockieren oder zu überfordern? Oder sind das nur meine Angstphantasien und die anderen gehen damit eigentlich ganz locker um? Oft gab es Getuschel hinter meinem Rücken, ein unwillkürlicher Schritt zurück, peinliche Berührtheit oder gut gemeinte Anweisungen und Kommentare:
Sie müssen nur mehr glauben, dann wird das schon! Wir beten auch für Sie!“
„Kein Wunder, wer sich so für Frauen- und Minderheitenrechte einsetzt, der muss ja ‚so‘ sein! Aber sonst finde ich Sie ganz sympathisch!“
„Wie Sie leben ist mir ja egal, aber bloß nichts den Kindern und Jugendlichen sagen! Die stecken Sie sonst noch an mit Ihrem Lesbisch sein. Und das geht dann wirklich zu weit!“
Ich mochte es irgendwann nicht mehr hören. Ich mochte auch nicht mehr überlegen, wie ich was sage oder nicht. Eine Zeit lang wollte ich überhaupt nichts mehr hören. In meinen ersten Amtsjahren hat sich in meinem rechten Ohr ein starker Tinnitus entwickelt. Ich hörte ständig ein Summen und hatte manchmal rasende Schmerzen im rechten Ohr. Meine Hörfähigkeit nahm rapide ab. Ich verspannte mich innerlich, je stärker der Schmerz wurde. Mein Kiefer verhärtete sich und ich erzählte immer weniger von mir. Beruflich musste ich reden, persönlich hörte ich damit auf. Meine Energie und Leidenschaft für Theologie und Gottesdienste ließen nach und es legte sich ein dicker Pelz über alle meine Sinne, der mich fast erstickte und verstummen ließ.
Die Leute in meinen lesbisch-feministischen und später queeren christlichen Netzwerken halfen mir. Wir erzählten von unseren Verletzungserfahrungen, schimpften und schwiegen, lachten und weinten und richteten uns gegenseitig wieder auf. Wir suchten uns dafür sichere Orte in Tagungshäusern, in der Natur und gestalteten uns unsere mobilen Gottesdienstorte so, wie wir sie brauchten: Mit Regenbogenflaggen und Kerzen, mit inklusiver und queer-freundlicher Musik und Sprache, mit Segensstationen, an denen wir uns gegenseitig segneten und uns beim Agape-Mahl, beim Feiern und Tanzen gegenseitig stärkten. Es waren Orte weit weg vom Getümmel des Mainstreams. Es waren sichere Orte.
So wie Jesus den sogenannten "Taubstummen" in der Geschichte vom 7. Kapitel im Markusevangelium an einen ruhigen, sicheren Ort brachte - fern von den Menschenmassen.
Dazu eine kurze Einordnung: Der Mann war taub, nicht stumm. Er konnte sich sicherlich mit Gestik, Mimik und Zeichensprache verständlich machen. So wie sich taube Menschen heutzutage mithilfe von Gebärdensprachen unterhalten und mit anderen kommunizieren, auch wenn sie nicht oder kaum hören können.
Und eine weitere Einordnung: Wenn ich die biblische Geschichte mit meinem Leben heute in Verbindung bringe, ist mir bewusst, dass ich nicht taub bin. Und ich weiß, dass es bisher keine körperliche Heilung von tauben Menschen gibt. Ich beziehe die biblische Geschichte mit meiner Auslegung auf solche Menschen, die keine verletzenden Worte mehr hören wollen, die stumm gemacht werden oder freiwillig verstummen, weil sie Traumatisches oder Schwieriges erlebt haben. Das ist eine Möglichkeit der Auslegung der Geschichte aus queerer Perspektive und nicht die eine.
Am sicheren Ort hat Jesus den tauben Mann angesehen. Von Angesicht zu Angesicht wurden Würde und Respekt spürbar und konnten wachsen. Keine verletzenden Fragen oder Äußerungen, keine Rechtfertigungen und keine Ohrenschmerzen, die das Hören unmöglich machen.
Jesus schaute in den Himmel, bat Gott, da zu sein und ihm die Kraft für heilende Berührungen zu geben. Jesus berührte das Ohr des anderen und legte ihm Speichel auf seine Zunge. Und er sprach: „Effata! Öffne dich!“ und der Taube konnte plötzlich hören und seine Zunge löste sich.
Jesus hat den Mann angesehen und ihm sein Ansehen zurückgegeben. Jesus hat sich vom anderen anrühren lassen, zum Himmel geschaut und geseufzt. Er hat das Leid und den Schmerz gespürt, mitgefühlt und ihn verstanden. Mit Gottes Hilfe konnte er ihn berühren und ihn ermutigen, sich zu öffnen.
Diesen Schritt musste der Mann selbst tun. Es war seine Entscheidung, sein aktives Zutun und sein Wille, etwas zu verändern. Er entschied sich, sich zu öffnen, obwohl es vielleicht gute Gründe gab, nichts hören zu wollen und nichts sagen zu müssen.
Vielen queeren Personen kommt das bekannt vor: Die Sehnsucht danach, sich nicht outen und erklären zu müssen; keine abwertenden Kommentare und Moralpredigten mehr hören müssen. Einige werden dabei im Laufe der Zeit immer leiser und verschlossener, bis sie ganz verstummen. Manche über Jahre, manche für immer.
Jesus ermutigt Menschen auch heute noch, sich mit Gottes Hilfe trotz allem zu öffnen, zu sich zu stehen, zu sagen, wer sie sind und dafür zu kämpfen, dass sie sich keine Abwertung, Häme und Hass mehr anhören müssen. Sie tun das nicht alleine, sondern mit anderen zusammen, und mit Jesus, der da ist und ihnen zuruft: „Effata! Öffne dich! Ich verstehe, warum du stumm geworden bist. Aber ich sehe auch dein Leid und deinen Schmerz! Deshalb: Trau dich und öffne dich!"
Wer sich öffnet, macht sich verletzlich und geht ein großes Risiko ein. Aber wer sich öffnet und zu sich steht, kann sich vielleicht irgendwann davon lösen, nur das zu sagen, was andere hören wollen oder sonst gar nichts mehr zu sagen. Wer sich öffnet, kann üben, immer gelassener auf negative Kommentare zu reagieren und davon irgendwann gar nicht mehr abhängig zu sein. Wer sich öffnet, kann vielleicht irgendwann die befreiende Kraft spüren, die darin liegt, zu sich selbst zu stehen.
Ich habe mich irgendwann entschieden, den Gemeindedienst aufzugeben und jenseits von einer lokalen Kirchengemeinde meinen pastoralen Dienst zu tun. Und seitdem ich offen und gelassen zu mir stehen kann, sind auch die Leute um mich herum offener und gelassener geworden. Ich erkläre mich nicht mehr und ich sage „Stopp!“ zu Abwertung und Beleidigungen, wenn ich sie mir oder anderen gegenüber höre. Ich brauche weiterhin geschützte Orte in Netzwerken und queeren Gruppen und tanke dort mit anderen zusammen auf. Mein Tinnitus, meine Schmerzerfahrungen und meine Narben sind geblieben. Aber ich kann mit ihnen leben.