Jedes Museum ist stolz, wenn es einen echten "van Gogh" besitzt. Seine "Sonnenblumen" wurden 1987 zum Preis von rund 40 Millionen Dollar verkauft - der damals höchste Preis, der je auf einer Gemälde-Auktion erzielt wurde. Zu Lebzeiten wartete der große Maler allerdings vergeblich auf Anerkennung und Erfolg. Denn Kenner schätzen, dass er nur für ein einziges seiner derzeit bekannten 873 Gemälde einen Käufer fand. Der hochsensible Künstler, der immer wieder in psychische Krisen mit Wahnvorstellungen und Depressionen geriet, starb mit nur 37 Jahren am 29. Juli 1890 an den Folgen einer Schussverletzung auf einem Kornfeld, das er zum Malen aufgesucht hatte. Obwohl es lange als sicher galt, dass er selbst auf sich schoss, gibt es inzwischen auch Theorien, die das bezweifeln. Die Autoren Steven Naifeh und Gregory White Smith zogen 2011 in ihrem Buch "The Life" in Betracht, dass der niederländische Künstler bei einem Unfall und nicht durch Suizid umgekommen sei. Wirklich klären lassen werden sich die Umstände seines Todes allerdings wohl nie.
Vincent van Gogh war nicht nur ein hochsensibler und großer Künstler. Er war auch, und das ist weithin vergessen, ein radikaler Prediger des Evangeliums für die Armen. Er stammt aus einer angesehenen Theologenfamilie im niederländischen Brabant. Geboren wird er am 30. März 1853 im Pfarrhaus von Goot-Zundert. Vincent beendet die höhere Bürgerschule in Tilburg 1868 ohne Abschluss. Akademische Bildung liegt dem rotblonden, untersetzten Vincent nicht, der sich schon als Kind häufig nicht in die Norm dessen einfügt, "was man tut".
Als Sechzehnjähriger beginnt er als Volontär in der Pariser Kunsthandlung Gouphil & Co in Den Haag. Vier Jahre später arbeitet Vincent van Gogh dann als Kunsthändler in London. Er schließt Freundschaft mit seinem jungen Arbeitskollegen Gladwell, mit dem er Abend für Abend in der Bibel liest. Von Anfang bis Ende wollen sie das Buch der Bücher durcharbeiten. Vincent findet erstmals Zugang zur christlichen Botschaft, die ihn zu Hause, im Pfarrhaus, nicht erreicht hatte. Unter dem Eindruck eines Buches von George Eliot über das Leben eines Pastors in einem elenden Arbeiterviertel wächst in ihm der Wunsch, unter den Arbeitern einer Industriestadt als Evangelist zu arbeiten.
Nicht mehr "dummen Leuten schlechte Bilder verkaufen"
In seinem Beruf als Kunsthändler wird ihm seine radikale Ehrlichkeit zum Verhängnis: Er hält mit seiner Meinung über die Bilder, die er verkaufen soll, einfach nicht hinter dem Berg - selbst wenn er damit reiche Kundschaft verprellt. "Vielleicht können Sie mir sagen, wie ein Mensch es verantworten kann, dass er das eine Leben, das er hat, damit verbringt, dummen Leuten schlechte Bilder zu verkaufen", soll er gesagt haben, als sein Chef ihn zur Rede stellt. Vincent van Gogh wird erst nach Paris versetzt, dann - am 1. April 1876 - macht seine Entlassung der beruflichen Laufbahn als Kunsthändler ein Ende.
Am Karsamstag 1876 bricht er wieder nach England auf. Als er am Ostersonntag ankommt, führt ihn sein erster Gang in die Kirche. "Da ergriffen mich die Worte, welche an der Wand standen: 'Ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende'", schreibt er seinem Bruder Theo. Im Juli findet er eine Stelle als Hilfslehrer und Katechet in einem Londoner Vorort. Überglücklich berichtet er Theo im November 1879 von seiner ersten Predigt in Richmond: "Ich hatte ein Gefühl wie jemand, der aus einem dunklen, unterirdischen Gewölbe wieder ins freundliche Tageslicht kommt, als ich auf der Kanzel stand. Es ist ein herrlicher Gedanke, dass ich fortan das Evangelium predigen werde, wohin ich auch kommen mag."
Auch wenn er im Januar zunächst einige Monate als Buchhandelsgehilfe in Dordrecht arbeitet, steht sein Entschluss fest: "Es ist mein Gebet und mein inniges Verlangen, dass der Geist meines Vaters und Großvaters auch auf mir ruhen möge und dass es mir vergönnt sei, ein Christ und ein Christen-Arbeiter zu sein", schreibt er Theo im März 1877. Seine Familie redet ihm zu, "ordentlich" Theologie zu studieren. Schließlich seien die van Goghs immer akademisch gebildete Theologen gewesen. Vincent lässt sich überreden und geht als Privatschüler nach Amsterdam, wohl auch, um "den Strom von Vorwürfen, die ich gehört und gefühlt habe" zu entkräften und um es seinem Vater endlich einmal Recht zu machen. Das Studium, das ihm zur Qual wird, sieht er als "einen Wettlauf und einen Kampf um mein Leben". Ein Wettlauf, in dem er unterliegt: "Was haben Griechisch, Hebräisch, Latein, Algebra, Geometrie und Geschichte mit dem Evangelium und mit Nächstenliebe zu tun?" fragt van Gogh, dem akademisches Wissen einfach nicht in den Kopf will. Er bricht seine akademischen Studien ab. "Du weißt, wie gut es gemeint war und doch wie jämmerlich war das Ergebnis. Noch schaudert’s mich, wenn ich daran denke. Es war die schlimmste Zeit in meinem Leben", vertraut er seinem Bruder Theo in einem seiner vielen Briefe an.
Vincent meldet sich im August 1878 bei der belgischen Missionsschule in Brüssel-Laeken an. Dort legt man Wert auf freie, volkstümliche Rede. Doch damit kann Vincent trotz intensivster Vorbereitung nicht dienen. Dennoch wird er als "Evangelist auf Probe" ins südbelgische Kohlerevier, die Borinage geschickt. So kommt Vincent van Gogh in eine Gegend, die wegen ihres Elends berüchtigt ist. Fast die gesamte Bevölkerung, einschließlich der Kinder ab neun Jahren, arbeitet unter Tage. Der Lohn für 13 Stunden Plackerei reicht nur für Brot und sauren Käse. Älter als vierzig wird hier kaum jemand: Entweder man kommt bei einem der häufigen Grubenunglücke ums Leben oder man holt sich eine Lungenkrankheit.
Keine Distanz zu den Armen
Vincent wiederum glaubt, nur dann wirklich das Evangelium verkünden zu können, wenn auch er in franziskanischer Armut lebt. Er unterrichtet Kinder, pflegt Kranke, verteilt das Wenige an Kleidern, Geld und Möbeln, das er besitzt, an die Armen. Doch bei den Bergleuten weckt seine grenzenlose Barmherzigkeit zunächst nur Misstrauen. Welche Opfer und Mühen Vincent van Gogh auch auf sich nimmt - anfangs wird er von den Armen nicht besser verstanden als von seiner Familie. Nur ganz zögernd kommen sie zu seinen Andachten, öffnen ihm ihre Hütten, lassen sich von ihm beraten und trösten. Schließlich gibt Vincent van Gogh sogar das einfache Zimmer in der Bäckerei auf, in dem er anfangs lebt. Er zieht in eine Bretterbude. Die Entbehrungen, die er sich auferlegt, gefährden sogar seine Gesundheit. Seine Vorgesetzten allerdings missbilligen das Tun des leidenschaftlichen jungen Mannes, der nicht im Mindesten redegewandt ist und der so gar keine Distanz zu den Armen hält.
Der vierzehnjährige Sohn der Bäckersleute, bei denen Vincent van Gogh wohnte, schildert sein Wirken später so: "Im selben Jahr, 1879, war ein schlagendes Wetter in Schacht Nr. 1 der Charbonnage Belge, wo mehrere Arbeiter schwere Brandwunden davontrugen. Unser Freund Vincent hatte Tag und Nacht keine Ruhe, er zerschnitt seine letzte Wäsche, um daraus Binden mit Wachs und Olivenöl zu machen und damit zu den Verbrannten zu eilen. Die Menschenfreundlichkeit unseres Freundes wurde von Tag zu Tag größer. Die Vorwürfe des Konsistoriums nahmen von Tag zu Tag zu, aber er blieb in tiefster Demut."
"Ich tauge zu etwas"
Als Vincent van Gogh dort gar Hilfe für die Bergleute erbittet, die mit einem Streik bessere Sicherheitsmaßnahmen erzwingen wollen, ist das Maß für die Missionsleitung voll. Statt der erwarteten Hilfe schicken sie zwei satte, gut gekleidete Herren aus dem Vorstand. Sie überhäufen Vincent van Gogh mit Vorwürfen, verkennen seinen Willen zum Helfen und seine überströmende Liebe, die den Motiven eines Albert Schweizer durchaus verwandt sind, als "Verrücktheit". Ein Feind des Evangeliums sei er, sein Verhalten schade dem Ansehen der Kirche, sein Benehmen sei eines Predigers unwürdig, urteilt man im Konsistorium, das ihn seines Dienstes enthebt.
Es dauert fast ein Jahr, bis Vincent sich selbst wieder etwas zutraut. Er zweifelt an sich - und auch an Gott. Er verkriecht sich "wie ein Vogel in der Mauser", aus der er 1880 mit einem Durchbruch zur künstlerischen Produktivität erneuert hervorkommt. "Ich, der ich als Tagedieb und Nichtsnutz, als Müßiggänger gelte, der nicht in der Lage ist, einen ordentlichen Beruf auszuüben und sich sein Brot selber zu verdienen, ich tauge zu etwas", zeigt er sich gegenüber Theo, der ihn immer wieder finanziell unterstützt, überzeugt.
Das Malen wird seine Passion. Lange sind die Armen sein wichtigstes Motiv, wie auf seinem Gemälde "Die Kartoffelesser". "Man soll das Feuer in der Seele nie ausgehen lassen, sondern es schüren. Wer die Armut für sich erwählt und sie liebt, besitzt einen großen Schatz und wird die Stimme seines Gewissens immer deutlich hören. Wer diese Stimme, die Gottes beste Gabe ist, hört und ihr folgt, findet in ihr einen Freund", ist er überzeugt. Den Gott der bürgerlichen Kirchen lehnt Vincent van Gogh ab, aber dem Gott des Mitleids und der Liebe bleibt er verbunden: "Ich bin eine Art Gläubiger in meinem Unglauben", sagt er von sich selbst.