Obwohl Frauen einen immer größeren Anteil zum Familieneinkommen beisteuern und es nahezu selbstverständlich ist, dass sie nach der Geburt eines Kindes ins Berufsleben zurückkehren, machen sich Männer, für die die Vollzeit-Stelle die Achse der Lebensführung ist, immer noch rar in der Haus- und Familienarbeit. Entweder, weil ihnen der Beruf keinen Freiraum zu lassen scheint – oder weil die alten Rollenmuster immer noch höchst lebendig sind und es so etwas wie eine "Alltagsvergessenheit" bei vielen Männern gibt. Auch in Partnerschaften, in denen beide Vollzeit arbeiten, so zeigen Studien, bleibt der Löwinnenanteil der Haushaltsarbeit an der Frau hängen. (Quelle: Statistica 2014)
"Frauen haben ein Vereinbarkeitsproblem, weil Männer keins haben"
Kinder, Küche und Karriere unter einen Hut zu bringen, das ist - immer noch - weitgehend Frauensache. "Frauen haben ein Vereinbarkeitsproblem, weil Männer keins haben", benennt die Gießener Professorin für Familiensoziologie und Haushaltswissenschaften, Uta Maier-Graewe, ein weit verbreitetes Problem. "Das Management von Familie, Beruf und sozialen Kontakten liegt immer noch fast ausschließlich bei den Frauen", weiß auch Rebekka Müller, Leiterin für den psychosozialen Bereich des Frauen- und Mütterkurhauses Bad Wurzach. Jeweils 43 Patientinnen beginnen und beenden hier eine dreiwöchige Kur zur Vorbeugung oder Rehabilitation gemeinsam. Dass die Frauen dabei "unter sich" sind und sich austauschen können, trägt aus Sicht von Rebekka Müller erheblich zum Kurerfolg bei.
Die Kurklinik in Bad Wurzach ist eine von deutschlandweit 14 zertifizierten Einrichtungen für Mutter-Kind oder Mütter-Kuren des Evangelischen Fachverbandes für Frauengesundheit e. V. (EVA), der auch Mitglied des Müttergenesungswerkes ist. Für einen Aufenthalt in Bad Wurzach gibt es Wartelisten. "Der Bedarf ist so groß, dass wir gerade anbauen", berichtet Rebekka Müller.
Über die Hälfte der Antragstellerinnnen sind alleinerziehend
Zeitdruck, mangelnde Anerkennung, das Gefühl, rund um die Uhr im Einsatz sein zu müssen, die doppelte Belastung in Beruf und Familie und unklare Rollenbilder machen viele Mütter krank. Oft tragen auch Partnerschaftsprobleme oder Überschuldung dazu bei, dass Frauen "reif" für einen stationären Aufenthalt in einer Kurklinik der EVA sind. Besonders schwer haben es alleinerziehende Mütter, deren Anteil bei über 50 Prozent der Antragstellerinnen auf eine Kur liegt.
Rückenbeschwerden, schwere Erschöpfung, Migräne, Hauterkrankungen, depressive Verstimmungen, Essstörungen, Atemwegserkrankungen oder Angstzustände gehören zu den häufigsten "müttertypischen Erkrankungen". Immer häufiger leiden die rund 700 Frauen, die pro Jahr allein in Bad Wurzach Abstand zum Familienalltag, neue Perspektiven und Gesundung suchen, auch an mehreren Symptomen gleichzeitig.
Rückenschmerzen etwa zeigen, dass die Frauen sich zu viel aufgeladen haben. Magen-Darm-Erkrankungen, Kopfschmerzen und Erkrankungen der oberen Atemwege signalisieren, dass den Frauen die Luft zum Atmen fehlt, es liegt ihnen zu viel im Magen oder macht ihnen Kopfzerbrechen: Oft tragen auch Partnerschaftsprobleme oder Überschuldung zu Erschöpfung und Burn out bei. In Einzelgesprächen können die Frauen in der Kur auch darüber sprechen.
Besonders schwer haben es alleinerziehende Mütter. "Ihr Anteil an den 1500 Anträgen auf eine Kur, die jährlich allein bei uns in Dresden in der Beratungsstelle für die Mütterkuren eingehen, ist überdurchschnittlich hoch", berichtet auch Kathrin Pflicke, Referentin für Frauengesundheit in der Evangelischen Landeskirche Sachsen. Sie und ihre Kolleginnen helfen bei der Kur-Antragstellung. Anders als noch vor ein paar Jahren, als die Krankenkassen Kuren für Mütter aus Kostengründen kaum noch bewilligten, haben die Anträge inzwischen gute Aussichten auf Bewilligung. Denn nicht zuletzt dank zäher Verhandlungen, an denen die Diakonie beteiligt war, haben sich seit 2012 die Bewertungskriterien des Medizinischen Dienstes verändert. Auch Frauen, die Angehörige pflegen, haben seit 2014 einen gesetzlichen Anspruch auf eine Kur. Denn auch sie sind - genau wie Mütter - rund um die Uhr gefordert.
Es geht nicht um "Wellness" oder "mal ausschlafen"
Anders als gelegentlich leichthin kolportiert wird, geht es in den dreiwöchigen stationären Kuren keinesfalls in erster Linie um "Wellness" oder "mal ausschlafen", betont EVA-Geschäftsführerin Dorothea Stöcker: Mit jeder Patientin werden individuelle Therapieziele erarbeitet. Medizinische Untersuchungen und Behandlungen, psychologische und psychosoziale Beratungen, Physiotherapie, Sport- und Bewegungstherapie, Entspannungstraining und Meditation, Massage, Ernährungsberatung, Gruppen- und Einzelgespräche gehören zum Therapieprogramm. "Wichtig ist uns, dass wir ganzheitlich arbeiten und Körper und Seele im Blick haben - und dass die Frauen sich hier so angenommen fühlen, wie sie sind", betont Rebekka Müller. Immer wieder erlebt sie, dass "bei den Frauen in den drei Wochen, in denen sie im Abstand zum Alltag neue Perspektiven entwickeln können, sehr viel geschieht."
12 der 14 von der Diakonie getragenen evangelischen Kliniken bieten Mutter-Kind-Kuren an, in denen die Frauen gemeinsam mit ihren Kindern aufgenommen werden. Oft haben auch die Kinder gesundheitliche Probleme, die behandelt werden. Zudem gibt es pädagogische Betreuungsangebote und für Schulkinder täglich ein besonderes Lernangebot. Angebote der Erziehungsberatung sollen die Mutter-Kind-Beziehung stärken und dazu beitragen, dass es zu Hause dauerhaft "runder" läuft als bisher.
In allen Kliniken, die zum Evangelischen Fachverband Frauengesundheit gehören, legt man Wert auf "spirituelle Angebote". Und das nicht nur, weil es die evangelische Frauenhilfe war, die 1908 die Mütter-Kuren erfand. Sie reagierte damit auf die Überforderung der Mütter, die damals vor allem durch die rasche Industrialisierung in einer sich schnell verändernden Gesellschaft hervorgerufen wurde.
"Als solidarisches und sehr konkretes Hilfsangebot von evangelischen Frauen für Frauen sind die Erholungsmaßnahmen von Anfang an gekennzeichnet von einer christlich geprägten besonderen Annahme und Zuwendung für die erschöpften Mütter - verbunden mit ganzheitlichen Hilfestellungen für Körper, Geist und Seele", charakterisiert Anke Kreutz, die langjährige Vorsitzende der Evangelischen Frauenhilfe im Rheinland, das Konzept. Dieses hat sich in seinen Grundzügen bis heute bewährt. Als Elly-Heuss-Knapp 1950 das Deutsche Müttergenesungswerk gründete, griff sie die Idee auf und verbreitete sie. Heute gehören 76 Einrichtungen zum Müttergenesungswerk.
"Zum Gesundwerden gehören auch spirituelle Angebote"
Für EVA-Geschäftsführerin Stöcker sind die spirituellen Angebote in den evangelischen Häusern nach wie vor unverzichtbar. "Zum Gesundwerden gehören auch spirituelle Angebote", ist sie überzeugt. Geistliche Impulse werden behutsam, aber nicht ohne Profil auf die Patientinnen abgestimmt. Denn längst nicht alle Frauen bringen Nähe zu Glaube und Spiritualität mit. In Bad Wurzach etwa lädt eine eigens angestellte Diakonin zum Abendsegen oder mitten am Tag zum Innehalten ein. "Auch Vorträge und Gespräche zu Frauenthemen oder biblischen Frauenfiguren stoßen auf großes Interesse", freut sich Rebekka Müller.
Wenn die Mütter mit neuer Kraft und neuen Erkenntnissen wieder nach Hause kommen, hat der Alltag sie oft allzu schnell wieder. Damit der Kurerfolg von Dauer ist, hat die Diakonie unterschiedliche Modelle zur Nachsorge entwickelt. Sie reichen von wohnortnahen Einzel- oder Gruppengesprächen über Abendseminare und Workshops bis hin zu Wochenenden oder dem "Kurbrunch" bei der Leipziger Diakonie. Hier haben die Frauen Gelegenheit, sich gegenseitig zu ermutigen, die guten Vorsätze aus der Kur auch umzusetzen. Zudem gibt es bei medizinischer Indikation nach vier Jahren auch einen erneuten Rechtsanspruch auf eine Mutter-Kur.