Was ist die Bibel, was sagt der Islam, und warum feiern wir Weihnachten? Wer im Internet über Suchmaschinen nach Antworten sucht, landet zuallererst bei Wikipedia. Die Online-Enzyklopädie, die von der Wikimedia-Stiftung, Spenden und ehrenamtlicher Arbeit lebt, wird von Google als besonders verlässliche Informationsquelle angesehen. Das gilt auch für religiöse Themen. Bei der Suche nach "Jesus", "Gott", "Christentum" oder "Islam" steht Wikipedia beispielsweise unangefochten auf Nummer 1 der jeweiligen Trefferliste.
Die meisten Religionen sind hier mit eigenen Artikeln vertreten, von den Bahai über Christentum und Islam bis zum Zoroastrismus, und es gibt religionsübergreifende Artikel zu Themen wie Gebet, Sünde oder Tod. Die von vielen freiwilligen Autoren erstellten Texte finden auch tatsächlich ihr Publikum, der Artikel zu Jesus von Nazareth beispielsweise wurde in den letzten 90 Tagen vor Mitte Juni knapp 90.000 Mal gelesen. Wikipedia ist da transparent: Unter jedem Wikipedia-Artikel steht ganz unten ein Link "Abrufstatistik", der diese Daten liefert.
Diese Redaktion ist nicht verantwortlich für Inhalte
Alle Artikel zum Thema werden im Wikipedia-Portal Religion zusammengefasst, eines von acht Themenportalen, die von ehrenamtlichen Redaktionen im Auge behalten werden. Allerdings: "Anders als in der Presse oder bei Online-Medien wie evangelisch.de ist die Redaktion 'Religion' nicht für die Inhalte der Artikel verantwortlich", erklärt "Athanasian", einer der Redaktionsmitglieder. "Die freiwilligen Mitarbeiter sind Ansprechpartner für Probleme wie Artikel, die den Qualitätsanforderungen nicht entsprechen, für Fragestellungen, die mehrere Artikel betreffen, das Finden von Kategorisierungen und auch für die Beantwortung von Fachfragen." Athanasian möchte wie viele andere Wikipedianer anonym arbeiten. Er sagt von sich nur, dass er promovierter Theologe und bei der evangelischen Kirche beschäftigt ist. Er selbst hat als Autor an etwa 70 Artikeln signifikant mitgewirkt, sie ausgebaut oder verbessert, unter anderem zur Auferstehung Jesu Christi und zu Lobpreis und Anbetung.
Einen Artikel verfassen darf der Theorie nach jeder. In der Praxis gibt es in der deutschsprachigen Wikipedia jedoch eine Art Vorab-Zensur. Ein neuer Artikel oder eine Veränderung wird erst dann angezeigt, wenn das von einem Wikipedia-Nutzer mit dem Status eines "Sichters" freigeschaltet wird. Sichter kann jeder werden, der eine Mindestzahl erfolgreicher Bearbeitungen vorweisen kann. So lange das nicht geschehen ist, macht nur ein kleiner Button rechts oben auf dem Bildschirm darauf aufmerksam, dass man sich auch die noch nicht bestätigte Version anschauen könnte.
Die deutsche Ausgabe bietet vergleichsweise hohes Niveau
In anderen Sprachversionen von Wikipedia wird das deutlich laxer gehandhabt. Die deutsche Praxis war bei ihrer Einführung im Jahr 2008 intern heftig umstritten, hat aber zu einem vergleichsweise hohen Niveau geführt. Vorbei sind die Zeiten, in denen alles und auch jeder Unsinn ungeprüft auf Wikipedia angezeigt wurde. Hinzu kommt, dass einige Religions-Artikel technisch "geschützt" sind, entweder weil das Thema so wichtig ist, dass der Informationswert nicht durch Vandalismus geschmälert werden soll oder weil sie inhaltlich besonders umkämpft sind. Die Artikel zu Jesus, zum Islam oder zum Judentum dürfen nicht von nicht angemeldeten oder neuen Nutzern verändert werden.
Die einzelnen Themen-Redaktionen legen für ihre Ressorts teilweise spezifische Richtlinien fest, für Medizin-Artikel gelten beispielsweise detaillierte Leitlinien zu erwünschten und unerwünschten Informationsquellen. Etwas ähnliches für das Religions-Ressort gebe es nicht, erzählt Athanasian. Die Artikel müssten einfach die üblichen Kriterien erfüllen, sich an die Form halten, eine Mindestlänge aufweisen und nur gesichertes Wissen verwenden, das sich mit vertrauenswürdigen Quellen belegen lässt.
Ein Wikipedia-Kriterium ist bei Religionsartikeln besonders relevant: der "Neutrale Standpunkt". Athanasian erklärt: "Ein Artikel über ein christliches Thema wie zum Beispiel die Auferstehung Jesu Christi soll die Inhalte so neutral darlegen, dass Atheisten oder Angehörigen anderer Religionen keine unterschwellige Zustimmung zu den Inhalten angetragen wird." Diese Distanz falle Autoren im Bereich Religion oft schwer, da sie über Themen schreiben, die ihnen persönlich etwas bedeuten.
Kaum noch Konflikte bei Einträgen zu christlichen Themen
Konflikte bei religionsbezogenen Artikeln gebe es deshalb immer wieder, dann brauche es kühle Köpfe, die deeskalieren und vermitteln. Beispielsweise habe es einen Streit darüber gegeben, ob vor allem in Lexikon-Einträgen über historische jüdische Persönlichkeiten das Kreuz als Symbol für das Sterbedatum verwendet werden darf. Davon abgesehen toben "Edit-Wars", wie es in der Wikipedia-Sprache heißt, aber eher im Ressort Politik als im Bereich Religion. Und bei christlichen Themen gebe es kaum noch Konflikte.
Ein existenzielles Problem der gesamten Wikipedia liegt in der Frage, ob sich genügend Autoren finden, die Artikel schreiben oder für die Qualitätssicherung sorgen. Wikipedia ist auf Leserseite gigantisch erfolgreich, plagt sich aber mit Nachwuchssorgen. Insgesamt sei die Zahl der aktiven Autoren viel niedriger als man annehmen könnte, erzählt Athanasian. Laut Wikipedia-Statistiken haben sich etwa zwei Millionen Nutzer irgendwann einmal ein eigenes Nutzerprofil auf der deutschen Wikipedia zugelegt. Nur etwa 20.000 aber gelten als "aktiv" und haben innerhalb des letzten Monats mitgeschrieben. Er schätzt, dass etwa 900 Autoren mit mehr als 100 Bearbeitungen pro Monat aktiv sind, davon etwa 10 bis 15 Leute im Themenbereich Christentum. Die aktive "Community" ist zudem recht homogen. Wikipedia gilt als Männer-Verein, woran auch gezielte Vielfalts-Bemühungen in der Vergangenheit wenig geändert haben.
Neuen Autoren, die auf Wikipedia schreiben wollen, empfiehlt Athanasian, sich über ein eigens dafür eingerichtetes Programm einen Mentor zu suchen: "Es gibt ein Mentorenprogramm, das Neuankömmlingen hilft, sich im Dschungel zurechtzufinden. Und wenn man ein wenig Hilfe bekommt, ist das gar nicht so schwer." Man solle sich in die Grundregeln von Wikipedia einlesen und sich dann ein schönes Thema suchen, das noch brachliegt und sich mit zuverlässiger, wissenschaftlicher Literatur einarbeiten. Auf der Seite des Religionsportals sind einige "fehlende Artikel" aufgelistet, die noch darauf warten, geschrieben zu werden, beispielsweise zum Thema "Falscher Prophet". Bei der Auswahl eines Themas empfiehlt Athanasian neuen Wikipedia-Schreibern allerdings, potenzielle Konfliktthemen erst einmal zu meiden, bei denen es zu intensiven inhaltlichen Auseinandersetzungen kommen kann: "Das kostet viel Zeit und verdirbt einem den Spaß."