Das Thema "Umpolung"/"Heilung"/"Veränderung" von Homosexualität hat unter anderem durch den Film "Die Schwulenheiler 2" von Christian Deker im NDR eine breite Öffentlichkeit erreicht und wird nun auch auf dem Kirchentag diskutiert. Finden Sie es gut, dass das Thema so präsent ist?
Günter Baum: Natürlich gibt es weltweit gesehen viel wichtigere Themen, mit denen man sich auseinandersetzen sollte. Aber die Frage, ob eine Veränderbarkeit der Homosexualität möglich ist, ist eine, die immer wieder auftaucht und die interessanterweise jetzt auch von den säkularen Medien öfters angesprochen wird. Allerdings hinterfrage ich die Art und Weise, wie diese Diskussion ausgelöst worden ist, nämlich auch durch eine Art der Berichterstattung, die Vorurteile bestärken kann. Aber ich denke, es ist ein Thema, über das man weiterhin reden und diskutieren muss.
Christian Deker hat in seinem Film kritisch gefragt, warum die evangelische Kirche in Deutschland Diskriminierung in ihren Reihen zulässt. Was meinen Sie: Sollte sich die Kirche beziehungsweise sollten sich liberale von evangelikalen Christen klarer abgrenzen?Baum: Ich meine, dass auf jeden Fall ein vertiefter Dialog darüber stattfinden sollte. Ich erlebe meistens die Auseinandersetzung mit diesem Thema sehr oberflächlich, immer gesehen durch eine Brille von Vorurteilen. Die Leute sollten wirklich mal an einem Tisch sitzen und sich Zeit nehmen, um miteinander zu diskutieren, und mal fragen: "Wie kommst du zu dieser Einstellung? Warum meinst du, es sei wichtig, dass Homosexualität verändert werden sollte?" Oder: "Welche Erfahrungen hast du selbst in deinem Leben gemacht?" Auf dieser Ebene findet fast kein Dialog statt, uns das halte ich für das Fatale an der ganzen Sache. Es wird nur auf der Ebene von Vorurteilen miteinander geredet. Das baut Mauern und keine Brücken.
Sie kennen das evangelikale Spektrum in Deutschland und sicher auch in der Schweiz. Gibt es da Bewegung bei der Akzeptanz von Homosexualität?
Baum: Ich kenne es – obwohl ich in der Schweiz lebe – vor allem in Deutschland, und es gibt da sehr wohl Bewegung. Aber es ist keine Bewegung in Meilen oder Kilometern, sondern in Zentimetern. Sie ist aber da, und man muss sehr behutsam vorgehen. Denn es kostet die Andersdenker oder Querdenker in der evangelikalen Szene sehr viel, wenn sie sich öffentlich dazu äußern. Das kann so weit gehen, dass sie ihre Stelle verlieren. Ich erlebe da Geschichten, wo mir einfach die Spucke wegbleibt, wenn zum Beispiel ein Prediger nur sagt: "Vielleicht sollten wir mal in der Sache Homosexualität anders denken", und ihm dann die Lehrerlaubnis für eine theologische Anstalt entzogen wird – nur weil er so etwas gesagt hat. Das, finde ich, ist ein Skandal! Aber der Dialog ist da. Wir von der Organisation Zwischenraum suchen den Dialog sehr bewusst und wir haben auch Wege gefunden, wie wir den Dialog organisieren. Allerdings muss das immer unter Verschwiegenheit stattfinden und wir dürfen keine Namen veröffentlichen von den Menschen, mit denen wir im Gespräch sind. Das ist fast eine Untergrundbewegung.
"Ich habe alles an Therapien durchlaufen, um eine Veränderung meiner Homosexualität zu erleben, und das Ergebnis war gleich null"
Wie groß ist diese Untergrundbewegung? Wie viele Menschen nehmen daran teil und wie weit sind Sie?
Baum: Wir haben ein so genanntes Querdenkertreffen initiiert, das bis jetzt zwei Mal im Abstand von zwei Jahren stattgefunden hat. Es sind natürlich nicht die Massen gewesen, weil wir nur auf persönliche Einladung und Empfehlung hin Menschen zulassen, mit denen wir ins Gespräch kommen möchten. Es sind zwar nicht so viele, aber es sind Meinungsbildner und Vordenker, für die es sich negativ auswirken könnte, wenn ihr Kontakt zu uns bekannt würde.
Was macht das mit Ihnen? Allein der Gedanke: Es schadet jemandem möglicherweise in seinem Beruf, wenn er mit Menschen wie Ihnen überhaupt nur spricht – wie wirkt das auf Sie?
Baum: Es macht mich wirklich sprachlos. Weil ich mich frage: Was für ein Bild muss dahinter stehen im Sinne von "das ist ein Teufel im Schafspelz" oder so, wenn allein schon der Dialog und der Kontakt in Frage gestellt wird. Ich frage mich, inwiefern sich diese Menschen auf Jesus berufen können. Denn Jesus hatte keine Berührungsängste. Jesus wäre, glaube ich, der erste gewesen, der mit mir das Gespräch suchen und sich nicht von mir abgrenzen würde.
Sie sind ja eigentlich auch so ein Querdenker, wenn man Ihren Lebensweg mal anschaut: In den Neunzigern haben Sie in Deutschland die Seelsorgeinitiative "Wüstenstrom" analog zum Heilungsdienst "Desert Stream Ministries" aus den USA initiiert und mit Markus Hoffmann zusammengearbeitet, der heute den Verein "wuestenstrom" leitet. Dann 1995 eine Kehrtwende und 2001 die Gründung von "Zwischenraum", wo lesbische, schwule, transsexuelle Christen – viele evangelikal geprägt – sich treffen. Warum war die Überlegung, dass Homosexualität veränderbar sei, plötzlich für Sie nicht mehr der richtige Weg?
Baum: Weil ich festgestellt habe, dass all das, was mir gesagt wurde, nicht zu Veränderungen in meinem eigenen Leben geführt hat. Ich habe wirklich alles an Programmen und Therapien durchlaufen, um eine Veränderung meiner Homosexualität zu erleben, und das Ergebnis war gleich null. Sicher wird mir jetzt von Kritikern vorgehalten: "Du hast es nicht ernst genug gemeint." Aber ich habe bis an die Schwelle meiner Existenz versucht, eine Veränderung zu erreichen – bis dahin, dass ich gesagt habe: Eigentlich ist nicht mehr zu leben die einzige Therapie, die dir noch bleibt. Und dann habe ich gespürt: Nein. Ist es wirklich das, was Gott will: ein geknechtetes Leben für dich selbst? Oder kann es sein, dass du wirklich versöhnt mit deiner Homosexualität als Christ leben kannst? An diesem Punkt habe ich dann das Umdenken angefangen. Für mich ist es immer wichtig, dass ich gemäß meiner Erkenntnis handeln kann. Ich will mich keiner frommen Ideologie unterwerfen, aber auch keiner schwullesbischen Ideologie. Das ist mir sehr wichtig. Sondern ich will die Freiheit meiner Entscheidung haben – in meiner Verantwortung vor Gott für mein Leben. Dafür stehe ich ein. Deswegen stehe ich auch für Menschen ein, die sagen: "Ich gehe einen anderen Weg. Ich will meine Homosexualität nicht ausleben, sondern ich möchte mein Leben als Christ leben, der homosexuell ist, aber eben für sich einen anderen Weg gefunden hat." Und deswegen habe ich auch etwas Mühe, wenn Menschen, die diesen Weg gehen, vom Kirchentag ausgeschlossen werden.
Damit sprechen Sie den Verein "wuestenstrom" an…
Baum: Genau. Damit spreche ich die an, mit denen wir auch versuchen in einen Dialog hineinzukommen, weil ich denke, die Freiheit des Andersdenkenden sollte mir auch wichtig sein.
Beim Hauskreis-Netzwerk "Zwischenraum" spricht man ja auch von "Heilung". Aber das ist ganz anders gemeint. Was suchen lesbische Christinnen und schwule Christen bei "Zwischenraum"?
Baum: Wir suchen bei "Zwischenraum" die Heilung zur Homosexualität. Also nicht die Heilung von Homosexualität. Ich glaube, dass ein Mensch seine Sexualität in sein Leben integrieren muss und dass das am besten gelingt, wenn man es gemeinsam mit Gott macht. Wenn ich meine Sexualität als eine von Gott gegebene Realität annehme, als eine Gabe für mich, und sage: "Vielen Dank, Gott, dass du mir das gegeben hast. Ich möchte diese Gabe in meinem Leben gestalten und in Verantwortung vor dir ausleben", das ist der Ansatz von "Zwischenraum". Nur wer sich selbst angenommen hat, der wird unabhängig davon, dass er von allen anderen geliebt und akzeptiert wird. Wenn wir diese Stärke in uns haben, dass wir einmal gehört haben – quasi wie die Stimme Gottes in meinem Herzen – "Du als Schwuler bist mein geliebter Sohn" oder: "Du als Lesbe bist meine geliebte Tochter", dann ist das eine Wirklichkeit und eine Basis für unser Leben, die uns niemand wegnehmen kann. Dafür steht Zwischenraum.