Herr Erne, welchen Sinn verbinden Sie mit dem Schwerpunkt Bild und Bibel?
Thomas Erne: Der Protestantismus hat einen Nachholbedarf, was das Bildhafte, das Visuelle angeht. Die Lutherdekade eröffnet da eine Gelegenheit, das Bild in eine gewisse Balance zu bringen.
Erne: Alles was im weitesten Sinne mit dem Visuellen zu tun hat. Innenräume von Kirchen, die Werbung, die neuen Medien. All dies läuft ja über das Visuelle und muss daher neu durchdacht werden, natürlich auf dem Hintergrund einer Kirche, die so stark auf das Wort gesetzt hat, auf die Schrift, aber natürlich auch auf die Face to Face-Kommunikation.
Wenn Sie von notwendiger Balance sprechen, was ist dann außer Gleichgewicht?
Erne: Die Evangelische Kirche sollte öffentlich ein Stück weit deutlich machen, dass sie auch eine Kirche des Bildes ist. Diese komische Auseinandersetzung - die Katholische Kirche hat die Bilder und die Evangelische die Bibel - sollte obsolet sein. Dieses Anerkennen des Bildes muss sich auf Bilder beziehen, die es dem Betrachter nicht so einfach machen, die wehtun und denen daher ein gastfreundlicher Raum in der Kirche anzubieten wäre. Das ist etwas, was ich mir für 2017 wünsche.
Durch das Internet und die digitalen Medien breitet sich der Faktor Bild in der Gesellschaft massiv aus. In diesem Prozess muss sich auch protestantische Verkündigung behaupten. Sollte nicht auf diesem Hintergrund auch das Verhältnis von Schrift und Bibel neu reflektiert werden?
Erne: Das Verhältnis von Verkündigung, also Predigt, Kommunikation über das Wort, zur Schrift ist ja eigentlich immer bedacht worden. Der Protestantismus hat dies geradezu zu seinem Markenzeichen gemacht. Bei Luthers Sola scriptura geht es ja nicht in erster Linie um Texte, sondern um das Wort Gottes. Die Bibel ist immer als gesprochenes Wort, als lebendiges Ereignis und Gegenwart Gottes verstanden worden, nie als bedrucktes Papier.
Sie argumentieren gegen die Annahme einer Hierarchie, zuerst das Wort, danach das Bild?
Erne: Dass Bilder eine eigene mediale Dimension haben, das ist schon neu, und darüber muss der Protestantismus nachdenken. Die Luther-Dekade bietet die Chance, eine Art blinden Fleck in den Blick zu nehmen.
Zurück zu Sola scriptura, vielleicht ein bisschen provokativ: Würde Luther, wäre er unter uns Heutigen, diese Maxime in gleicher Weise vertreten?
Erne: Das Luthertum ist eigentlich sehr bildaffin. Historisch gesehen, findet sich in lutherischen Kirchentümern eine bewahrende Kraft auch gegenüber der vorreformatorischen Kunst. Es ist eine reformierte Tradition, dass die Bilder aus den Kirchenräumen entfernt werden müssen. Der Grund: Zwingli ordnet dem Bild eine Mächtigkeit zu, die unabhängig von der Deutung auf den Betrachter wirkt. Luther geht damit entspannter um. Er sagt, es ist eigentlich die Deutung, die das Bild mächtig macht: Wenn ich mit dem Bild angemessen umgehe, dann tut es mir nichts. Deshalb werden die Bilder - ausgenommen die Darstellung von Maria oder von Heiligen - weitgehend in den lutherischen Kirchen auch bewahrt.
Ist demnach die angebliche Bildferne des Protestantismus nichts anderes als ein Missverständnis?
Erne: Das Luthertum kann mit Bildern umgehen, hat Bilder in den Kirchen und ist in der Hinsicht eine mit Bildern kompatible Form des Protestantismus. Was wir diskutieren, sind ja nicht die Bilder, die im Dienste der Religion stehen, sondern ist das Bild selbst mit seiner eigenständigen Ästhetik. Diese existiert nicht durch Deutung. Vielmehr baut sie einen eigenen Widerstand auf, auch gegen religiöse Deutung, den man verstehen muss und der auch für Religion interessant ist.
"Luther, ganz ohne Zweifel, wäre ein Filmbegeisterter gewesen"
Diese Eigenständigkeit muss also von der Kirche, von den Gläubigen neu gelernt werden? Wie eine Programmiersprache etwa?
Erne: Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein haben Künstler sehr stark von der Kirche als Auftraggeberin gelebt. Dass es jetzt, also seit der Aufklärung, eine Entwicklung hin zu einer Autonomie des Bildes, der Kunst gegeben hat, ist neu zu bedenken. Wir müssen die Autonomie der Bilder begreifen, die mit dem konkreten Begriff, den man sich von ihnen in der Geschichte gemacht hat, nicht immer identisch ist. Und das ist eben etwas, was Luther nicht im Blick hatte.
Dachte Luther zu sehr in präreformatorischen Kategorien?
Erne: Luther ging davon aus, dass bis auf ganz wenige Ausnahmen eigentlich alle Bilder im Dienst des Wortes Gottes bestehen können. Er schrieb ihnen die Fähigkeit zu, die christlichen Inhalte, die biblischen Szenen, auch die reformatorischen Inhalte in das Visuelle zu übersetzen. Die Reformation ist damals unter anderem deshalb so erfolgreich, weil sie die Bilder benutzt, mit Flugschriften, mit Bildern von Lucas Cranach, mit Porträts von Luther selbst. Nehmen wir seine Bibelillustrationen: Die Bilder reden, sie reden viel besser als die Schrift.
Reden wozu? Autonomie ist ja kein Wert an sich.
Erne: Das Luthertum ist in seiner Bildaffinität gleichsam ein Vorläufer dessen, was wir in der heutigen Werbung finden. Eine kunstvolle in Bilder übersetzte Sprache, die für bestimmte Inhalte, Produkte, Unternehmen oder auch Stimmungen wirbt. Imagekampagnen, wie wir sagen. Für Luther ist dies genau die religiöse Gebrauchskunst, die er sehr schätzt. Er will für die Lehre werben, vor allem die gewinnen, die nicht lesen können. So ist er auf seine Weise auch ein Medienrevolutionär.
Der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch hat in seiner Geschichte der Medien spekulativ die Vorstellung ins Spiel gebracht, es gäbe Videoaufzeichnungen etwa von der Bergpredigt. Welche Bedeutung messen Sie dem zu?
Erne: Das ist ja nicht ganz abwegig. Die Geschichte der Filmindustrie Hollywoods beginnt ja mit der Bebilderung biblischer Stoffe. Luther, ganz ohne Zweifel, wäre ein Filmbegeisterter gewesen. Die Bilder seiner Zeit waren ihm ja nicht mächtig genug, weil sie keine Bewegung kannten, weil sie immer nur einen Ausschnitt zeigten. Unser Denken über einen solchen Videomittschnitt heute würde entscheidend von der Art abhängen, wie er gemacht wäre. Was unsere Vorstellung von Christus vermutlich wirklich ändern würde, wäre eine Fotographie von ihm.
Erne: Was nicht unterschätzt werden sollte ist der Wert der Predigt als verbale öffentliche Kommunikation, die von relativ vielen Menschen gehört wird. Vermutlich gilt dies in gleicher Weise nur noch für den Bundestag. Die Predigt muss allerdings vielfältiger werden, ausdifferenzierter, auch was die Orte von Verkündigung anbetrifft. Sie ist überdies gut beraten, auch Anknüpfungspunkte bei den visuellen Medien zu finden, die die Menschen begleiten. Ein für mich exemplarisches Beispiel hier ist der Film "Liebe" von Michael Haneke. Bestimmte Szenen eignen sich wunderbar für eine Predigt, so zum Thema Demenz.
In der Chronologie der medialen Ausdrucksformen der Menschheit ist das Netz technologisch die vorläufig komplexeste Stufe. Beobachter beschreiben neben neuen Chancen der Artikulation und Partizipation einen Trend zur Oberflächlichkeit, zu wachsenden Wissens- und Reflexionsdefiziten. Was sehen Sie, zum Beispiel bei Ihren Theologiestudenten?
Erne: Nein, solche Einschränkungen registriere ich bei meinen Studenten nicht. Eher, wie souverän sie etwa mit Facebook umgehen. Protestantisch betrachtet, sind die sozialen Medien übrigens für mich so etwas wie ein moderner Begriff von Geist. Es ist im theologischen Sinne Geist, wenn gemeint ist: Wir sind alle gleichzeitig durch höchst intensive Kommunikation miteinander verbunden.