Häufig sind es Persönlichkeiten mit geringem Selbstwertgefühl, die für sich keine berufliche und private Zukunft sehen, keinen Halt in der Familie finden und auf der Suche nach einer Autorität sind, der sie folgen können. Junge Menschen, die mit dem so genannten IS in den vermeintlich "heiligen" Krieg in Syrien oder im Irak ziehen wollen, lassen sich von gezielten Anwerbeversuchen aus dem extremistisch-islamistischen Milieu verführen.
"Oft genug geht es mit dem Verteilen von kostenlosen Koran-Ausgaben los, das ist er erste Schritt ins Milieu", berichtet Thomas Mücke, Projektleiter der Beratungsstelle "Kompass", die Dschihadisten zur Abkehr vom Extremismus bewegen will. Seit Anfang April betreuen Mücke und zwei Mitarbeiter im Rahmen des "Violence Prevention Network" neun Jugendliche, die desillusioniert aus dem barbarischen Krieg nach Hause zurückkehren, oder die von Sicherheitsbehörden und Angehörigen als gefährdet eingestuft werden.
"Natürlich klingelt unser Klientel nicht bei uns in der Beratungsstelle und sagt: Hallo, ich bin Extremist, bitte helft mir", betont Mücke. Zuletzt erhielt sein Team einen Anruf von einem muslimischen Elternpaar, deren beiden Söhne sich auf den Weg nach Syrien gemacht hatten. "Das Wichtigste ist, wenigstens telefonisch Kontakt zu halten. Die Eltern haben wir dann schnellstmöglich an die türkisch-syrische Grenze gebracht, so dass die Söhne wussten, dass sie in der Nähe sind. In einem unbeobachteten Moment ist den beiden gelungen, sich aus der Gruppe zukünftiger IS-Kämpfer in Syrien zu lösen und zu ihren Eltern zurückzukehren." Mücke und sein Team arbeiten in solchen Fällen eng mit den deutschen Sicherheitsbehörden zusammen.
Die Rückkehrer stehen erstmal vor Gericht
"Der Ausstieg aus der Szene ist ein Prozess von ein bis zwei Jahren", sagt Mücke. "Die meisten von ihnen haben kaum Kenntnis vom Islam, sondern wiederholen nur die vermeintlichen Welterklärungen, die sie von den Extremisten gelernt haben." Seine beiden Mitarbeiter, selbst gläubige Muslime, sind geschulte Pädagogen und durchlaufen für den Einsatz gegen religiöse Radikalisierung noch eine zusätzliche Ausbildung. Sie wollen für die Jugendlichen nicht nur eine persönliche Bezugsperson sein, sondern diskutieren mit ihnen auch intensiv über den islamischen Glauben und die simplen Wahrheiten der IS-Schergen.
Bei Kriegs-Rückkehrern ist die Resozialisierung auch deswegen schwierig, weil sie vor deutschen Gerichten wegen einer "schweren staatsgefährdenden Straftat im Ausland" angeklagt werden. Zudem wenden sich oft Freunde, Glaubensbrüder aus der Moschee und manchmal auch die Familie von ihnen ab. Ihre Perspektiven, einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu bekommen, sind entsprechend gering.
Die Islamisten-Szene versucht derweil verstärkt, auch Frauen für den Dschihad anzuwerben, weil sie für den Aufbau eines eigenen Staates benötigt werden. Zehn Prozent der Ausreisewilligen Berliner sind Mädchen zwischen 16 und 17 Jahren, erklärt Projektleiter Mücke, Tendenz steigend. "Viele dieser jungen Frauen wissen mit den Freiheiten der westlichen Gesellschaft nicht umzugehen und suchen schlicht Halt, oder wollen gegen ihre Eltern rebellieren, die sie nicht als Autoritäten akzeptieren." Anders als bei jungen Männern gehe bei Frauen die Radikalisierung oft völlig unbemerkt vonstatten, ohne jegliches äußere Anzeichen, bis zu dem Zeitpunkt, ab dem sie sich unter die Kontrolle der IS-Schlepper begeben. "Dann ist eine Flucht so gut wie unmöglich. Frauen stehen innerhalb der IS-Strukturen unter permanenter Überwachung. Fehler beim Fluchtversuch können da sehr schnell tödliche Folgen haben", so Mücke.
"Salafisten verbieten ihnen das Nachdenken"
Zugleich will das Kompass-Projekt die Jugendlichen bereits vor einer geplanten Ausreise von ihrem radikalen Weg abbringen. Die Kompass-Mitarbeiter pflegen enge Beziehungen zur muslimischen Gemeinde, kennen die Strukturen innerhalb der Moscheen gut. "Erst einmal zeigen wir nur Präsenz und bieten vielleicht ein ruhiges Gespräch an", berichtet der 29jährige Mitarbeiter Majid, der seinen richtigen Namen nicht sagen will, während eines Gesprächs in einem unauffälligen Büro des "Violence Prevention Network" in einem Kreuzberger Hinterhof. "Das Vertrauen der Jugendlichen ist unser größtes Kapital, und nicht zuletzt ist unsere Anonymität auch eine Frage der eigenen Sicherheit", sagt der sportliche junge Mann mit Kurzhaarfrisur und aufgewecktem, freundlichem Blick.
In vielen Fällen erhält das Berater-Team Hinweise von besorgten Eltern, von Freunden oder aus einer Gemeinde. Sobald es Anzeichen für eine Radikalisierung oder gar eine bevorstehende Ausreise gibt, starten die Kompass-Mitarbeiter eine "kreative Kontaktaufnahme", ein wenig in der Art eines Street-Workers.
"Wir besuchen dann beispielsweise die Eltern und sprechen mit ihnen darüber, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Wenn der Jugendliche dann nach Hause kommt und einen Unbekannten in der Küche sitzen sieht, schließt der sich gleich in seinem Zimmer ein, das ist ganz normal. Ich biete ihm dann einfach ein Gespräch an, zum Beispiel, indem ich ihm ein Briefchen unter der Tür hindurchschiebe", erzählt Majid. "Die Salafisten verbieten ihnen das Nachdenken, für sie gibt es nur eine Wahrheit. Genau das versuchen wir zu durchbrechen." Die Erfolgsquote der sehr persönlichen und behutsamen Herangehensweise des Kompass-Projekts bezeichnet der Leiter Thomas Mücke nach sechs Wochen als "sehr hoch".
Auch in Schulen und in Jugendstrafvollzugsanstalten sind die Kompass-Mitarbeiter aktiv, sprechen gezielt über muslimisches Leben in der westlichen Gesellschaft, über persönliche Ziele und Perspektiven. Bis 2019 erhält die Kompass-Beratung vom Berliner Senat für die Deradikalisierungs-Arbeit 100.000 Euro jährlich. Eine großzügige private Spende ermöglicht es jetzt, eine zusätzliche Mitarbeiterin speziell für die Betreuung von radikalisierten Frauen einzustellen. Thomas Mücke ist optimistisch. "Die Salafisten-Szene trimmt die Jugendlichen darauf, alle sozialen Kontakte abzubrechen, wie bei einer Sekte. Wir versuchen, Beziehungen zu Menschen aufzubauen, die viel Ablehnung erfahren haben."