Sie kommen nicht in Booten übers Mittelmeer, sondern zu Fuß oder auf den Laderampen zerbeulter Lastwagen über die Grenzen gefahren, mitsamt ihren Habseligkeiten: ein Bündel mit Kochgeschirr und Kleidern, ein halber Sack Hirsemehl, eine Matratze, eine Decke, ein Wasserkanister. Die meisten können nicht mehr schleppen oder hatten zu wenig Zeit zum Packen, als sie vor den Kämpfen aus ihren Häusern fliehen mussten.
Täglich überqueren unzählige Flüchtlinge aus dem umliegenden Bürgerkriegsländern und Krisengebieten die Grenzen, um im ostafrikanischen Land Uganda Schutz zu suchen, ein Land mit einer der liberalsten Einwanderungspolitiken weltweit. Über eine halbe Million Flüchtlinge leben in Uganda derzeit, so die Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Es sollen noch viel mehr werden: bis zu 700.000 bis zum Ende des Jahres, so die Schätzungen.
Sie stammen aus den umliegenden Krisenländern: aus dem Ostkongo, wo seit 20 Jahren Krieg herrscht; dem Südsudan, wo vor über einem Jahr die Kämpfe wieder ausgebrochen sind; aus Somalia wo die islamistische Al-Shabaab-Miliz Teile des Landes kontrolliert; oder aus Eritrea, wo ein Diktator die Jugendlichen in den lebenslangen Militärdienst zwingt und die Bevölkerung als Gefangene hält. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie haben keine Hoffnung, dass es in ihren Heimatländern bald besser wird. Sie fliehen mit all ihren Ersparnissen, um sich in Uganda ein neues Leben aufzubauen.
"U are most welcome", steht am Schalter für Asylanträge in Ugandas Immigrationsbehörde. Im Büro des Premierministers gibt es ein Staatsministerium für Flüchtlingsangelegenheiten. Der zuständige Minister Mussa Eczweru unterzeichnet am Fließband Aufenthaltsberechtigungen. Er ist selbst als Flüchtling in den Lagern im Nachbarland Tansania aufgewachsen, als in Uganda Krieg herrschte. Es gibt eine große Solidarität mit den Vertriebenen. Hier in Uganda investieren sie ihr Erspartes, um einen Laden, ein Restaurant oder ein Unternehmen aufzumachen – irgendwas, womit sie Geld erwirtschaften können, denn Uganda kann sie nicht durchfüttern. Von den neuen Unternehmen profitiert im Endeffekt Ugandas Wirtschaft.
Chaos in Libyen verschlimmert die Lage
Uganda selbst ist ein armes Land. Über die Hälfte der Jugendlichen unter 25 Jahren ist arbeitslos. Im Vergleich: Die Bundesrepublik beherbergt laut UNHCR nur halb so viele Flüchtlinge wie Uganda, dabei ist deren Bruttosozialprodukt 157 Mal so hoch.
Zu meinen, ganz Afrika sei auf der Flucht übers Mittelmeer nach Europa, ist ein Trugschluss. Diejenigen, die bei uns ankommen, sind nur ein klitzekleiner Bruchteil der Millionen von Menschen, die in Afrika auf der Flucht sind. Es sind oftmals die Söhne und selten auch Töchter der geflüchteten Familien, die den langen, beschwerlichen und lebensgefährlichen Weg nach Europa auf sich nehmen. Die Familien legen all ihr Erspartes zusammen, um ein Familienmitglied auf die teurer Reise gen Europa zu schicken, meist die am besten Ausgebildeten. Jemand, der in Deutschland, Italien oder Schweden am ehesten Fuß fassen und einen Job finden kann, um möglichst schnell Geld ins Flüchtlingslager nach Afrika zu senden.
Das eigentliche Flüchtlingsdrama findet also nicht im Mittelmeer statt, sondern auf dem afrikanischen Kontinent selbst, in den unzähligen Vertriebenenlagern in den Bürgerkriegsregionen sowie in den Flüchtlingslagern von Uganda und anderen Herbergsländern. Kenia zum Beispiel nimmt Somali auf, in Ruanda leben kongolesische und burundische Tutsi, und viele zentralafrikanische Flüchtlinge gehen nach Kamerun.
Wer verhindern will, dass tausende Menschen aus Afrika bei ihrer Überfahrt nach Italien ertrinken, muss vor Ort nach Lösungen suchen, am Ursprung des Problems, das schon seit vielen Jahrzehnten auf dem Kontinent existiert. Es ist nur in Europa jüngst erst prekär geworden, nachdem durch den Sturz des Diktators Muhammar Gaddafi Libyen im Chaos versinkt. Zu Zeiten Gaddafis war Libyen einmal ein Auffangbecken für afrikanische Flüchtlinge. Jetzt ist das Land ein Kriegsgebiet, die Auffanglager wurden zerstört, Flüchtlinge können hier nicht bleiben.
Afrika-Politik muss mehr sein als Stippvisiten
Die Schlepperboote vor Libyens Küste zu zerstören, um die Überfahrt unmöglich zu machen; die Gelder für die Rettungspatrouillen wieder aufzustocken oder die Verteilungsquoten innerhalb der Europäischen Union zu reformieren – das sind alles nur Trostpflaster. Diese in Brüssel beschlossenen Maßnahmen werden an den Kriegen in Afrika selbst nichts ändern und damit auch dem Flüchtlingsstrom keinen Einhalt gebieten, im Gegenteil. Wer sich die vernachlässigten Krisen des Kontinents genauer ansieht, der weiß: Es werden sich in Zukunft mehr Menschen auf den Weg nach Europa machen. Tausende fliehen derzeit aus Burundi ins Nachbarland Ruanda, seit Tagen herrscht Ausnahmezustand in der Hauptstadt Bujumbura kurz vor den umstrittenen Präsidentschaftswahlen. Dass es zu Aufständen kommen wird, war vorhersagbar. Doch anstatt eine präventive Krisenpolitik zu betreiben, wurde die UN-Beobachtermission aus Burundi abgezogen. Die EU oder die Bundesregierung haben sich noch nie sonderlich für das kleine Land im Herzen Afrikas interessiert.
Afrika ist von Europa aus betrachtet unser direkter Nachbarkontinent. Die EU und Deutschland finanzieren einen Löwenanteil der UN-Friedensmissionen, der Hilfsgüter und Nichtregierungsorganisationen für die Krisenherde vor Ort. Doch weder die europäische Kommission noch die Bundesregierung haben eine ausgefeilte Afrika-Politik in der Schublade. Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Entwicklungsminister Gerd Müller waren jüngst mehrfach auf Stippvisite in Afrika unterwegs, auch im Bürgerkriegsland Kongo. Man kann nur hoffen, dass dies ein Auftakt war, Lösungen für die Ursachen der Flüchtlingsströme zu suchen und anstatt die Bürden armen Ländern wie Uganda zu überlassen.