"Seit einer halben Stunde haben wir wieder Strom", sagt Parsu Ram Rai am Montag um 16 Uhr 32 nepalesischer Ortszeit – 12 Uhr 48 deutscher Zeit - telefonisch aus Kathmandu. Der Programmdirektor der Bürgerrechtsorganisation für gesellschaftliche Randgruppen Blue Diamond Society berichtet, dass erste Hilfstrupps aus China und Indien in der von dem schweren Erdbeben verwüsteten Hauptstadt Nepals eingetroffen sind.
Das sind für Parsu Ram Raiaber aber auch schon alle positiven Nachrichten aus Kathmandu: "Die Menschen haben Angst. Sie fürchten sich vor den Nachbeben. Erst am Sonntag hatten wir ein Nachbeben der Stärke 6,9. Keiner traut sich nach Hause. Viele Häuser sind zerstört. Fast alle Gebäude haben Risse. Keiner weiß, wie sicher sie sind. Hunderttausende Menschen kampieren im Freien."
Parsu Ram Rai saß im fünften Stock in seinem Büro in Kathmandu, als das schwere Beben der Stärke 7,8 am vergangenen Samstag Nepal erschütterte. "Plötzlich fing alles an zu wackeln. Bücherregale kippten um und die Überwachungskamera fiel von der Wand. In allen Wänden sind Risse. Das Haus könnte jederzeit zusammenfallen."
Das Erdbeben war das schwerste in der Himalaja Region seit vielen Jahrzehnten. Sein Epizentrum lag im Distrikt Lamjung, rund 80 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kathmandu. Die am schwersten betroffene Region zwischen den Städten Kathmandu und Pokhara ist das am dichtesten besiedelte Gebiet Nepals.
Mehr als 3.800 Tote hat die Katastrophe bisher gefordert und die Behörden gehen davon aus, dass die Zahl in den nächsten Tagen noch weiter steigen wird. Tausende Menschen werden noch vermisst, Straßen und Brücken sind durch Trümmer und Erdrutsche unpassierbar geworden und machen es den Hilfskräften schwer, in entlegene Gebiete durchzudringen. Das Kinderhilfswerk schätzt die Zahl der betroffenen Kinder auf über eine Million.
Der Nepalese Bijaya Rajbhandari, Leiter von UNICEF Thailand, hat ebenfalls das Erdbeben bei einem Besuch der Familie in Kathmandu direkt erlebt. "Viele Menschen haben die vergangene Nacht aus Angst vor Nachbeben in der Kälte im Freien verbracht. Diesen Menschen fehlt es am Nötigsten und die öffentlichen Krankenhäuser sind überfüllt. Die Menschen brauchen Hilfen und sie brauchen sie sofort", schilderte Rajbhandari am Sonntag, einen Tag nach dem Beben, die verheerende Situation in Kathmandu.
Nahrungsmittel und Wasser reichen nicht lange
Hilfe ist unterwegs. Hilfsorganisationen aus aller Welt sind entweder auf dem Weg nach Nepal oder auch schon bereits in dem Himalajastaat angekommen. Im Gepäck haben sie erste Hilfsgüter wie Zelte, Decken und Tabletten zur Wasseraufbereitung. Organisationen wie CARE, die seit vielen Jahren in Nepal arbeiten, sind bereits mit Nothilfeteams im Einsatz.
Die evangelischen Hilfswerke stehen in engem Kontakt zu den Partnerorganisationen in Nepal, mit denen die Zusammenarbeit oft schon seit Jahrzehnten läuft. "Sie alle stehen unter doppeltem Druck: auf der einen Seite geht es darum zu klären, ob die Organisationen arbeitsfähig sind oder ob viele der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – gerade in abgelegenen Regionen – selbst betroffen sind, ob Häuser oder Büros zerstört wurden", heißt es auf der Webseite von Brot für die Welt. "Zum anderen geht es darum, schnell und effizient Hilfe zu leisten, wo sie dringend gebraucht wird.“
Santosh Sharma, CARE-Nothilfekoordinator in Kathmandu, warnt: "Die Menschen teilen jetzt das Wenige, das sie haben, aber lange werden die Nahrungsmittel und das Wasser nicht mehr ausreichen. Das Ausmaß der Katastrophe ist bisher noch kaum abzusehen, aber wir müssen davon ausgehen, dass Hilfe in sehr großem Umfang vonnöten sein wird."
Die Lebensgrundlage vieler Überlebender ist zunichte
Ärztliche Versorgung ist eine der vielen Hilfen, die dringend benötigt werden. Patienten müssen schon unter freiem Himmel behandelt werden. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MsF) hat Nothilfeexperten aus aller Welt nach Nepal beordert. Ein Team aus medizinischem und nicht-medizinischem Personal war am Sonntag von Japan aus nach Nepal aufgebrochen. MsF-Mitarbeiter aus Amsterdam sollen sich neben der medizinischen Nothilfe auch um Wasser und sanitäre Anlagen kümmern. Aus Bordeaux in Frankreich wurden am Sonntag Hilfsgüter nach Kathmandu geflogen. Ein achtköpfiges chirurgisches Team hatte sich am Sonntagnachmittag von Brüssel aus auf den Weg nach Kathmandu gemacht. Ihre Aufgabe: Aufbau einer chirurgischen Station.
Wie schwierig es aber in den ersten Stunden nach dem Beben war, die Katastrophenregion überhaupt zu erreichen, zeigt das Schicksal eines Ärzteteams aus Neu Delhi. Die Ärzte waren unmittelbar nach dem Beben nach Nepal aufgebrochen, mussten zunächst wegen Nachbeben umkehren und machten sich am Sonntag erneut auf dem Weg nach Kathmandu.
Zunächst ist humanitäre Soforthilfe angesagt. Jedoch wird sich in den kommenden Tagen und Wochen Schritt für Schritt zeigen, wie sehr das Erdbeben neben den materiellen Schäden auch die Lebensgrundlage vieler Überlebender zunichte gemacht hat. "Die Tagelöhner haben keine Möglichkeit mehr, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen", befürchtet Parsu Ram Rai.
Nepal ist das ärmste Land Südasiens. Das jährliche Bruttonationaleinkommen pro Kopf beträgt 700 US-Dollar. Fast ein Fünftel der Bevölkerung leidet an Unterernährung. Nur rund 60 Prozent der Erwachsenen können lesen und schreiben. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung (HDI) von 2013 liegt Nepal auf Platz 145 der 187 aufgeführten Länder.
Angesichts des immensen menschlichen Leids durch das Erdbeben tritt zunächst der unermessliche Schaden an zahllosen religiösen Kulturdenkmälern, Pilgerstätten und Tempeln als Zeugnisse des kulturellen, historischen und religiösen Erbes des Vielvölkerstaats Nepal in den Hintergrund. In Kathmandu ist der historische Dharahara Turm nur noch ein Haufen staubiger Ziegelsteine.
Der Turm ist eines der insgesamt sieben als Weltkulturerbe geltenden Bauwerke Kathmandus, von denen keines ohne schwere Schäden geblieben ist, wie zum Beispiel der dem Gott Shiwa geweihte Hindutempel Pashupatinath. Weitgehend zerstört ist auch das buddhistische Heiligtum Boudhanath, das auch wichtiger Anlaufpunkt für Tibeter war, die über die Berge vor der Verfolgung durch die Chinesen nach Nepal geflohen waren, wie auch der Affentempel in Swayambhunath, die älteste buddhistische Stupa im Tal von Kathmandu.
"Jeder hilft dem anderen"
Obgleich heute die Mehrheit der Nepalesen Hindus sind, ist der Einfluss des Buddhismus in der Spiritualität wie auch in der Tempelarchitektur noch deutlich sichtbar. Nepal ist der Geburtsort des Buddhismus. In der Stadt Lumbini an der Grenze zu Indien wurde der Überlieferung nach vor über 2.500 Jahren Siddharta Gautama, der Gründer des Buddhismus, geboren. Unklar ist noch, ob und wie stark Buddhas Heimatstadt von dem Beben in Mitleidenschaft gezogen worden ist.
In der Stunde der Not stehen die Menschen in Kathmandu zusammen. Mit Stolz sagt Parsu Ram Rai über seine Landsleute: "Jeder hilft dem anderen, wo er nur kann."